In fortschrittlichen Kreisen wird über die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ und das sie umgebende Milieu intensiv diskutiert. Wesentlicher Streitpunkt ist, ob es sich bei ihr um eine bürgerliche Partei oder schon um die reaktionärste politische Kraft der herrschenden Klasse handelt. Im Gegensatz zum Mainstream kommt hier niemand mehr auf die Idee, diese Partei einem „linken Lager“ zuzuordnen. Verdient hat sich die Partei diese herzliche Abneigung insbesondere durch die Abwendung von der Friedensbewegung und der Hinwendung zur „westlichen Wertegemeinschaft“. Diesem Prozess widmet sich Matthias Rude in seinem neuen Buch „Die Grünen – Von der Protestpartei zum Kriegsakteur“, das Anfang des Jahres im Verlag Hintergrund erschienen ist.
Rude beschreibt streng chronologisch die Entwicklung der Partei – von ihren Ursprüngen als diffuser Haufen aus Anthroposophen, völkischen Ökobauern, Marxisten, K-Gruppen-Geschädigten, Moskauhassern, Friedensbewegten und vielen mehr bis hin zu ihrer heutigen, höchsten Form – Annalena Baerbock. Der Fokus des Buches liegt dabei klar auf den Führungsgremien und -figuren der Partei. Erarbeitete diese sich in den 1980er Jahren mit Köpfen wie Jutta Ditfurth und Petra Kelly noch ihr Image als linksalternative Kraft mit Schwerpunkt Frieden und Anti-Atomkraft, brachte die Annexion der DDR die buchstäbliche „Wende“ für die Partei. Während die West-Grünen dem Annexionsprozess aus antideutschem Reflex zunächst kritisch begegneten, spülte die Ost-Gruppierung Bündnis 90 mit Köpfen wie Joachim Gauck und Marianne Birthler Antikommunisten erster Güteklasse in die Partei und ihr Umfeld. Letztlich war es aber Joseph Fischers Sponticlique, die die Beseitigung friedenspolitischer Grundsätze besorgte.
Das tief in der bürgerlichen Ideologie der Grünen verankerte Karrieredenken zeichnet Rude plastisch nach, wenn er aus alten Spontiorganen zitiert, „man müsse ‚zugreifen, wenn Führungspositionen‘ angeboten würden und plötzlich ‚lebensgeschichtliche Perspektiven möglich erscheinen‘“. Das Aufzeigen der Wurzeln späterer Entwicklungen anhand solcher Materialien macht eine besondere Stärke des Buches aus. Die Folgen der Unterordnung unter die BRD-Staatsdoktrin, die spätestens seit der Unterstützung des NATO-Krieges gegen Jugoslawien unübersehbar ist, werden dann bis hin zum Ukraine-Konflikt mit zahlreichen Beispielen belegt.
Man darf von diesem schmalen Band, der in der neuen Reihe „Wissen Kompakt“ des Verlags Hintergrund erschienen ist, nicht zu viele Antworten auf Fragen zum Verständnis der grünen Ideologie verlangen. Zwar wird konstatiert, dass mit 72 Prozent der Anteil von Befürwortern der Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine in der Grünen-Anhängerschaft so groß ist wie bei keiner anderen Partei. Wie es aber im grünen Milieu dazu kam, dass sich ökologisches Problembewusstsein schleichend erst in triefend liberalen Moralismus und später in die typisch deutsche Lust verwandelte, kulturell als rückständig erkannten Völkern mit der Knute zu ihrem Glück zu verhelfen, wird nicht skizziert. So fällt es an vielen Stellen des Buches schwer zu verstehen, warum angesichts der tiefen Verlogenheit der Partei in der Frage von Krieg und Frieden überhaupt noch Menschen Hoffnung in sie setzen. Dies lässt sich aber nicht ohne die Vermengung der Friedensfrage mit der Ökologie begreifen. Es verlangt vom Leser, sich in die ideologische Beschallung der 2000er Jahre zurückzudenken. In eine Zeit, in der den Deutschen unter tatkräftiger Mithilfe der Grünen die Hartz-Gesetze aufgezwungen wurden – nach dem Motto „Medizin muss bitter schmecken“.
Letztlich wird das Buch dem Reihentitel gerecht und vermittelt Wissen über einen sehr spezifischen Aspekt des Werdegangs der grünen Partei in Deutschland in kompakter Form. Der Band ist konsistent aufgebaut, gut geschrieben und sauber belegt – als kompakte Argumentationshilfe in der täglichen Auseinandersetzung mit den bürgerlich-reaktionären Auswüchsen der grünen Ideologie also ein wertvolles Material.
Matthias Rude
Die Grünen – Von der Protestpartei zum Kriegsakteur
Verlag Hintergrund Berlin 2023, 80 Seiten, 10,90 Euro