Parteigruppe im Lahn-Dill-Kreis leistet konkrete Kulturarbeit

Gegen Demagogie und Dummheit

Klaus Petri

Bert Brecht lobte „den Zweifel“ als Erkenntnis fördernde und Klarheit im politischen Urteil schaffende Methode. Er verband dies mit dem Rat, denjenigen zu schätzen, der „euer Wort“ kritisch, also nur zweifelnd vernimmt. Für überzeugende Kommunistinnen und Kommunisten ist dies eine dauerhafte Herausforderung, für vermeintlich zu 100 Prozent von sich selbst überzeugte möglicherweise auch eine entbehrliche Anstrengung. Ohne Zweifel wird ein künftiger Anlauf zu einer sozialistischen Revolution nicht mit dem Sturm auf ein zaristisches Winterpalais beginnen. Es gilt, nach Marx, dafür zu sorgen, dass „die Idee zur materiellen Gewalt wird“, indem sie die Köpfe der Menschen erreicht. Das hat mit Kultur und Kommunikation zu tun. Antonio Gramsci hat für entwickelte kapitalistische Gesellschaften dargelegt und begründet, dass, bevor die Eigentumsfrage im Sinne der Mehrheit beantwortet werden kann, eine „kulturelle Hegemonie“ der nicht vom Herrschaftsapparat profitierenden Mehrheit erkämpft und gelebt werden muss.

„Die Kulturindustrie ist ein Vehikel des Massenbetrugs.“ Dieses Adorno-Zitat ist der Leitpfosten auf der Homepage des Schauspielers und Kulturarbeiters Erich Schaffner aus Mörfelden (bei Frankfurt). Dass da jemand der Unkultur, der Demagogie, der platten Unterhaltung, der politischen Entmündigung und dem Selbstbetrug etwas entgegenzusetzen vermag, imponierte der DKP-Gruppe im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis. Einmal im Jahr veranstaltet sie auf einer Wetzlarer Kleinkunstbühne einen politischen Theaterabend mit Erich Schaffner und dem Pianisten Georg Klemp. 2017 galt es, das epochale Ereignis der russischen Oktoberrevolution mit einem eigens zusammengestellten Programm Revue passieren zu lassen. Die geschichtliche Erfahrung der russischen Revolutionäre war prägend für die kommunistische Weltbewegung. In dem Poem „LENIN“ des späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Becher heißt es: „Er rührte an den Schlaf der Welt/Mit Worten, die Blitze waren.“ Der russische Schriftsteller Wladimir Majakowski verstand sich als „Trompete der Revolution“: „Du, Land der Länder, brich auf und stürme. Tritt in den Staub das Modergewürme. Wage den Streit. Vorwärts die Zeit.“ Im zehn Jahre nach dem Sieg der Bolschewiki verfassten „Oktoberpoem“ ist Majakowskis Blick auf die neue Obrigkeit ironisch grundiert: „In den Autos sitzen meine Deputierten. Die von mir gekürten.“ Er verfasst einen „Leitfaden für Speichellecker“. Aber er ist hoffnungsfroh: „Andere Länder sind alt, schreiten zum Grabe. Mein Land ist ein Knabe.“ Mit einem Georg-Herwegh-Text aus dem Jahr 1845 wurde das Geschehen in Russland in den allgemeinen Kontext des Freiheitsverlangens von Ausgebeuteten und Unterdrückten eingebettet: „Oh wag es doch nur einen Tag nur frei zu sein! Nur einen Tag! Es rechnet nicht das Herz, das sich empört!“

2018 jährten sich die deutsche Novemberrevolution und die Gründung der KPD zum hundertsten Mal. Hier tun sich demokratietheoretische Fragen auf: Ist die parlamentarische Form der Demokratie alternativlos? Wie aktuell sind 100 Jahre später rätedemokratische Traditionen? Und: Sind Klassenkompromisse eine Form des Verrats an der historischen Mission der Arbeiterklasse? Will man im politischen Streit den vielen von den „vorläufigen Endsiegern der Geschichte“ aufgestellten sprachlichen Gesslerhüten („Unrechtsstaat“, „freiheitliche Gesellschaft“, „Nationalsozialismus“, „Globalisierung“) souverän entgegentreten, bedarf es profunden historischen Wissens. Schaffners Programm „Ja, damals im November“ vermittelt das in kurzweiliger und unterhaltsamer Form. „Der Krieg ist für die Reichen, der Mittelstand muss weichen, das Volk stellt die Leichen“ war eine im Ersten Weltkrieg unter Landsern verbreitete Redensart. Kurt Tucholskys „Im Graben“ unterstreicht diese Erfahrung von Millionen Feldgrauen: „In den Graben schickten euch die Junker, ihr wart gut genug für die Raben“. Aufgeblähtes nationales Pathos („Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“) kontrastiert mit Alltagselend im Steckrübenwinter („In Frankfurt sin die Kartoffel all!“). Rosa Luxemburg ätzte in Richtung SPD-Führung: „Ein Hund ist, wer den Stiefel der Herrschenden leckt, der ihn jahrelang mit Tritten bedachte.“ Tucholsky schrieb der SPD-Führung ins Stammbuch: „Wat brauchste Grundsätze, wenn de een Apparat hast?“ und kommentierte 1919 im „Lied vom Kompromiss“ gallig die Burgfriedenspolitik mit den aristokratischen und bürgerlichen Eliten des Kaiserreiches: „Durch Deutschland geht ein tiefer Riss – dafür gibt es keinen Kompromiss!“ Bert Brecht machte 1948 den Text-Vorschlag einer Grabinschrift für die beiden im Januar 1919 ermordeten Arbeiterführer Rosa Luxemburg („Ermordet von unseren Unterdrückern – Unterdrückte, begrabt eure Zwietracht“) und Karl Liebknecht („Als er erschlagen wurde, stand unsere Stadt noch“).

Ein eigenes Brecht-Programm mit dem Titel „Der Mensch denkt nur im Notfall“ gab es dann Ende Oktober letzten Jahres im Wetzlarer Kulturzentrum „Franzis“ zu genießen. Mit dem Gruß „Liebe Literaturinteressierte, liebe Politikinteressierte, liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freunde und Förderer des Klassenkampfes“ wurden die 50 Gäste aller Altersstufen im Namen der Wetzlarer DKP begrüßt und auf das damals noch für Ende August 2020 geplante UZ-Pressefest aufmerksam gemacht. Das Programm wurde auch durch mehrere Laienschauspieler der Wetzlarer Arbeitsloseninitiative WALI mitgestaltet. Die machen seit über 20 Jahren unter der künstlerischen Leitung von Erich Schaffner eine engagierte Theaterarbeit mit phantastischen Bühnenbildern und anspruchsvollen Programmen.

Wetzlar ist „Goethestadt“; als Praktikant am Reichskammergericht verliebte sich der 22-Jährige 1772 in Charlotte Buff, Tochter eines Amtmanns am Deutschordenshof, sicherlich ein Anstoß, zwei Jahre später mit dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ seinen weltweiten Ruhm zu starten. Im Goethe-Jahr 1999 begann die WALI-Theaterarbeit unter dem Goethe-Motto „Die Bestimmung des Menschen ist Tätigkeit“. Ein anderer Prominenter mit Wetzlarer Wurzeln ist der SPD-Mitbegründer und spätere „Arbeiterkaiser“ August Bebel (1840 bis 913), der mit Mitteln aus einem Waisenfonds hier an der Lahn eine Tischlerlehre machte. Die Wetzlarer DKP-Mitglieder haben sich von einer Stadtführerin die mit Bebels Wetzlarer Zeit verbundenen Stationen zeigen und erläutern lassen und selbst Exponate zu einer „Bebel-Ausstellung“ im Stadtmuseum beigesteuert.

Ein Genosse ist im Verein „Wetzlar erinnert“ (antifaschistisches Gedenken) aktiv. Frauentags- und Antikriegstagveranstaltungen der örtlichen „linken Szene“ sind in der Regel mit einem Kulturbeitrag verbunden. Ein älterer Genosse ist schriftstellerisch tätig und verfasst Krimis sowie historische Erzählungen mit regionalen Bezügen. Da jetzt die Partei – 75 Jahre nach Kriegsende – das Thema „Frieden mit Russland“ als einen Schwerpunkt der politischen Arbeit hat, wollten die Wetzlarer Kommunistinnen und Kommunisten Einzelheiten zur Rezeption antifaschistischer sowjetischer Literatur, Musik- und Filmkunst in der DDR erfahren. Dazu gab es einen Bildungsabend, an dem eine Genossin und ehemalige Lehrerin aus Sonneberg/Thüringen sehr lebendig zum Thema referierte. Die in Wetzlar-Dutenhofen geborene Kommunistin und Widerstandskämpferin Ria Deeg (1907 bis 2000) zitierte zuweilen den Schriftsteller und Aphoristiker Jean Paul (1763 bis 1825), wonach ein gutes Buch, wenn es in die richtigen Hände gerät, die Welt ein wenig besser zu machen vermag. Ein zeitlos kluger Gedanke. Übermittelt von einer unter Gießener und Wetzlarer Genossinnen und Genossen hoch angesehenen Kämpferin für das Gute, Humane, gegen die Barbarei – und ein Plädoyer für kommunistische Kulturarbeit!

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"Gegen Demagogie und Dummheit", UZ vom 4. September 2020



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