Ostdeutsche Lebenserfahrungen werden ausgeblendet – sowohl bei den Renten als auch in den Medien

Gefühl statt Realität

Am Montag war es mal wieder so weit. „Ostdeutsche unzufrieden mit Demokratie“, raschelte es durch den Blätterwald. Auslöser war der sogenannte „Deutschland-Monitor“, eine Studie der Universität Jena. Wie bei solchen Umfragen üblich, zeichneten die Medien das Bild eines unerklärlich missmutigen Ostens, der politisch auf die schiefe Bahn zu geraten drohe. „Wer sich als ‚abgehängt’ ansieht, neigt eher zu populistischen Einstellungen“, wurde die an der Studie beteiligte Politikwissenschaftlerin Marion Reiser zitiert – häufig besonders hervorgehoben, als Blickfang nach der Überschrift. Deshalb müsse dieses „Gefühl“ auch „ernst genommen werden“.

Den Menschen in Ostdeutschland ihre Lebenserfahrung abzusprechen gehört in den sogenannten „Leitmedien“ zum guten Ton. Der durch die großflächige De-Industrialisierung und die Zerschlagung der DDR erfahrene Bruch wird kleingeredet. Schon seit den 90er-Jahren wird diese Berichterstattung von einer Kampagne gegen eine vermeintlich demokratiefeindliche ostdeutsche Mentalität begleitet. Damit wird die Bevölkerung gespalten und nahtlos an die Verachtung angeknüpft, die in der BRD jahrelang gestreut wurde, um die Einwohner des ersten sozialistischen Staates zu diskreditieren.

Kein Wunder also, dass von einem „Gefühl“ geschrieben wird, wenn bittere Realität gemeint ist. Am Montag machte noch eine zweite Nachricht die Runde. Während der „Deutschland-Monitor“ mit großen Beiträgen in bundesweit ausstrahlenden Medien bedacht wurde, überließ man es weitestgehend den Ost-Zeitungen, über das Ende des sogenannten „Härtefallfonds“ zu berichten. Dieser Fonds war im Jahr 2022 von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf den Weg gebracht worden. Mit den Mitteln sollten ostdeutsche Rentner für den Verlust ihrer in DDR-Zeiten erworbenen Rentenansprüche aus sogenannten Zusatzrenten entschädigt werden. Davon waren 17 Berufsgruppen betroffen, unter anderem Postangestellte, Eisenbahner und Bergleute. Ihre Lebensleistung wurde nach der Konterrevolution genauso wenig anerkannt wie die von den Frauen, die sich in der DDR scheiden ließen. Nach 1990 mussten sie erhebliche Nachteile hinnehmen. Insgesamt, so schätzte der „Runde Tisch Rentengerechtigkeit“, wurden ehemaligen DDR-Bürgern Renten in Höhe von rund 40 Milliarden Euro vorenthalten.

Dem gegenüber stand also der „Härtefallfonds“ mit einem Umfang von 500 Millionen Euro. Pro „bedürftigem“ Rentner sollten daraus einmalig 2.500 Euro ausgezahlt werden, ein Almosen im Vergleich zur verlorenen Versorgung. Als „bedürftig“ galt, wer Grundsicherung bezog – also längst in der Altersarmut gelandet war. Auch Spätaussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion durften Anträge stellen. Am 31. Januar endete die Antragsfrist. Zu diesem Zeitpunkt waren gerade einmal 163.000 Anträge gestellt worden. Darunter 50.000 bis 70.000 Anträge aus der Gruppe der knapp 500.000 noch lebenden betrogenen Ostrentner. Auf Anfrage der dpa teilte das Bundessozialministerium mit, dass bislang 48.543 Anträge abschließend bearbeitet worden seien. Nur 13.483 wurden genehmigt – der Rest ging leer aus. Von den versprochenen 500 Millionen Euro wurden nur etwas mehr als 35 Millionen Euro ausgezahlt. Was nach Bearbeitung aller Anträge übrig bleibt, geht in die Staatskasse zurück. Eine Verlängerung der Frist soll es nicht geben.

Die Bundespolitik setzt mit ihrer Verschleppungstaktik ganz offen auf die „biologische Lösung“. Doch der Aufschrei bleibt aus. Stattdessen wird über ostdeutsche „Gefühle“ und eine angebliche Unzufriedenheit mit der Demokratie geschrieben. Wer sich den „Deutschland-Monitor“ genauer anschaut, lernt übrigens: 97 Prozent sowohl der Ost- als auch der Westdeutschen sprechen sich grundsätzlich für einen demokratischen Staat aus. Mit der gelebten Praxis sind dann jedoch 56 Prozent der Ostdeutschen unzufrieden. Sie wollen mehrheitlich also nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Was unter einem funktionsfähigen Staat verstanden wird, variiert in Ost und West dann tatsächlich. Nur 66 Prozent der West-, aber 78 Prozent der Ostdeutschen sehen den Staat in der Verantwortung, die Bürger vor Armut zu schützen, Alter und Krankheit abzusichern, einen Arbeitsplatz zu garantieren und für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen. Sie fordern mehrheitlich Lohn- und Preiskontrollen sowie den Abbau von Einkommensunterschieden.

Die DDR ist Geschichte, ihre ehemaligen Bürger werden abgestraft. Doch aus den Köpfen konnte sie bis heute nicht gestrichen werden. Das ist das „Gefühl“, um das es den Herrschenden tatsächlich geht.

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"Gefühl statt Realität", UZ vom 2. Februar 2024



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