Ein Erbe des britischen Kolonialismus
Der seit mehr als 70 Jahren schwelende Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan ist ein Erbe des britischen Kolonialismus. Er hat bereits zu drei offenen Kriegen zwischen den beiden Staaten geführt, 1947–1949, 1965 und 1971/72. Die erneute Zuspitzung ist umso gefährlicher, als sowohl Indien wie Pakistan über Atomwaffen verfügen.
Bis 1947 war die Kaschmirregion Teil des britischen Kolonialreichs in Asien. Als es dessen Machthaber nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und angesichts der sich überall verstärkenden antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen für zweckmäßiger hielten, die Form der offenen Kolonialherrschaft aufzugeben und statt dessen neue neokolonialer Abhängigkeitsverhältnisse anzustreben, wurde die Kolonie Britisch-Indien 1947 in die zwei unabhängigen Staaten, Indien und Pakistan, geteilt. Zugleich wurden religiöse Gegensätze angestachelt. In der Indischen Union erlangten die in den meisten Bundesstaaten in der Bevölkerung mehrheitlichen Hindus die Vorherrschaft, während Pakistan zu einem moslemischen Staat wurde.
Die an der Grenze zwischen den beiden Staaten liegende Kaschmirregion wurde zum Zankapfel. Obwohl mehrheitlich von Moslems bewohnt, lehnten die damaligen regionalen Machthaber den Anschluss an das von der Moslemliga regierte Pakistan ab. Als daraufhin von Pakistan aus moslemische Milizen in Kaschmir eindrangen, erklärte sich der Maharadscha des „Fürstenstaates“ im Oktober 1947 für den Anschluss an Indien. Die indische Zentralregierung schickte umgehend mehrere tausend Soldaten.
Seitdem blieb die Region von Spannungen geprägt. Die UNO vermittelte mehrere Waffenstillstandsabkommen, ohne eine dauerhafte Friedensregelung zu erreichen. Die Region wurde geteilt: der südliche Teil wurde Teil der Indischen Union, die nördlichen Gebiete kamen unter pakistanische Verwaltung. Aber nach wie vor beanspruchen beide Staaten die ganze Region als Staatsgebiet. Jammu und Kaschmir – dem einzigen indischen Bundesstaat mit moslemischer Bevölkerungsmehrheit – wurde weitgehende Autonomie zugestanden: eigene Verfassung, eigene Flagge und das Recht auf eigenständige Entscheidungen außer in der Außen-, Verteidigungs- und Kommunikationspolitik.
„Die Regierung Modi hat unserer Verfassungsordnung einen schweren Schlag versetzt, indem sie Artikel 370 und andere Bestimmungen der Verfassung einseitig aus dem Weg räumte und den Staat Jammu und Kaschmir spaltete“.
Mit diesen Worten verurteilten fünf indische Linksparteien in einer gemeinsamen Erklärung das Vorhaben der hindunationalistischen rechten Regierung unter Ministerpräsident Narendra Modi, dem indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir an der Ostgrenze Indiens zu Pakistan und China per Präsidialdekret den bisherigen Autonomiestatus zu entziehen. Zugleich wird dieser Bundesstaat überhaupt abgeschafft und die Region in zwei getrennte, direkt von der Zentralregierung verwaltete „Unionsterritorien“ aufgeteilt.
Unterzeichnet war die Erklärung von der Communist Party of India – Marxist (CPI-M), der Communist Party of India (CPI), der Communist Party of India (Marxist-Leninist) Liberation (CPIML-L), dem All India Forward Bloc (AIFB) und der Revolutionary Socialist Party (RSP).
Vor der Bekanntgabe der Entscheidung hatte die Zentralregierung Kaschmir abgeriegelt und 35 000 Soldaten dort stationiert. Der Ausnahmezustand wurde eingeführt, Versammlungen verboten und eine Ausgangsperre verhängt, Mobilfunkverbindungen und Internet blockiert. Touristen war das Verlassen der Region unter Hinweis auf eine drohende „Terrorgefahr“ empfohlen worden. 300, nach anderen Angaben 500 lokale Politiker, Professoren und andere bekannte Persönlichkeiten wurden inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt, darunter die frühere Chefministerin des Bundesstaates, Mehbooba Mufti, die der Demokratischen Volkspartei (PDP) angehört. In der Stadt Srinagar gab es Auseinandersetzungen zwischen jungen Männern und der Polizei und Soldaten, die Tränengas einsetzten und Schüsse abgaben. Der Generalsekretär der CPI-M, Sitaram Yechury, und ein weiteres Mitglied der Parteiführung, die ein Mitglied des Zentralkomitees ihrer Partei in Kaschmir besuchen wollten, wurden auf dem Flughafen von Srinagar zeitweise festgenommen. Die Einreise nach Kaschmir wurde ihnen verweigert.
Bereits am 5. August, dem Tag der Bekanntgabe der Regierungsentscheidung, hatten die Linksparteien eine Protestdemonstration in Neu-Delhi in der Nähe des Parlaments veranstaltet. Sie wurde von der Polizei gestoppt. Auch im Parlament selbst veranstalteten die linken Abgeordneten zusammen mit einigen Abgeordneten der Kongresspartei und anderer Oppositionsparteien eine Protestaktion durch Klappern mit den Pultdeckeln, Verlassen ihrer Sitze und anhaltende Sprechchöre in den Gängen des Sitzungssaals und vor dem Rednerpult. Mehrere führende Abgeordnete der bürgerlich-sozialdemokratischen Kongresspartei äußerten ihre Ablehnung des Modi-Vorgehens – das mache Indien in Jammu und Kaschmir zur „Besatzungsmacht“.
Pakistan hat das indische Vorgehen verurteilt. Sein Außenminister sagte allerdings, sein Land wolle keinen Krieg. Deshalb denke man nicht an eine militärische Reaktion. Der Nationale Sicherheitsrat beschloss jedoch die Herabstufung der diplomatischen Beziehungen und eine Einschränkung der Handelsbeziehungen. Die pakistanische Eisenbahnverwaltung verkündete die „vorübergehende Einstellung“ der einzigen direkten Eisenbahnverbindung zwischen beiden Ländern, auch „Friedenszug“ genannt, der bisher zwei Mal pro Woche vom pakistanischen Lahore nach Neu-Delhi fuhr. Auch die Busverbindung, der „Freundschaftsbus“, wurde eingestellt. Der Grenzübergang in Wagah soll dagegen für Passanten geöffnet bleiben.
Es geht der Modi-Regierung bei der Änderung des Status von Kaschmir, der dem bundesstaatlichen Charakter Indiens wiederspricht, aber nicht nur um die Schürung des Konflikts mit Pakistan, sondern offensichtlich auch um handfeste materielle Interessen. Mit der Aufhebung des Autonomiestatus wird nämlich unter anderem die Bestimmung gekippt, dass in diesem Bundesstaat nur dort ansässige Einwohner Grundstücke erwerben dürfen. In der moslemischen Bevölkerung wächst die Angst. Sie berfürchtet, einer Einwanderungswelle aus anderen Teilen Indiens ausgesetzt zu werden, durch die ihre Mehrheit in Kaschmir beseitigt würde. Modi rechtfertigte das Vorgehen in einer TV-Rede mit der „Terrorismus“-Bekämpfung und der Schaffung von Voraussetzungen für Investitionen und einen wirtschaftlichen Aufstieg in dem ökonomisch unterentwickelten Gebiet. Offenbar soll damit dem hindunationalistischen Kapital in Kaschmir ein neues Betätigungsfeld eröffnet werden.
Aber die Regierung Modi zielt darüber hinaus darauf ab, mit dem Schüren des Hindu-Nationalismus ihre Herrschaft in ganz Indien zu festigen und auszubauen. Die große Mehrheit der Bevölkerung soll durch den Konflikt um die BJP zusammengeschlossen werden, wie ihr das schon im Frühjahr im Parlamentswahlkampf gelungen war. Der Hindunationalismus soll der Regierung zum Machterhalt, aber auch als Mittel dienen, soziale Konflikte zu überspielen und Unzufriedenheit und Kritik an der Regierung niederzuhalten.
Mit dem Anheizen des Konflikts spielt die BJP-Regierung mit dem Feuer. Die indischen Linken fordern die unverzügliche Rücknahme der gegen die Region getroffenen Entscheidungen. Die Stärkung der Bindungen der Bevölkerung von Jammu und Kaschmir an den Rest Indiens könne „nur durch den politischen Dialog mit allen Beteiligten erfolgen“, heißt es in ihrer Erklärung. Diese Haltung verdient internationale solidarische Unterstützung – im Interesse der Eindämmung eines weiteren gefährlichen Konfliktes und der Sicherung des Weltfriedens.