Mütterchen Russland – die eurasische Riesin und die westliche Hybris

Geburtshelferin der neuen Weltordnung?

Der Krieg des „Wertewestens“ mit Hilfe des herbeigeputschten Kiewer Nationalistenregimes ist für die russische Führung nicht gerade ein neues Phänomen. Die Größe des Landes, seine strategische Bedeutung, vermutete Schwächen seiner staatlichen und militärischen Strukturen wurden seit Jahrhunderten als Einladung zu Invasionen verstanden. Russland war schon in den frühesten Zeiten seiner staatlichen Herausbildung aus den slawischen Stammesgesellschaften im 9. Jahrhundert ein umkämpftes Territorium. Ein Blick in die russische Geschichte ist daher unabdingbar, wenn man das Handeln der russischen Führung verstehen will.

Eroberungsversuche

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts drang die gefürchtete „Goldene Horde“ in Richtung Europa vor. Die mongolischen Reiterarmeen hatten binnen weniger Jahrzehnte eines der größten Weltreiche überhaupt erobert. Von Südosten kommend, eroberten sie große Teil der Fürstentümer der Rus, die sich von der Weichsel im Westen bis zum Fuß des Kaukasus und der Karpaten erstreckte. Die Städte Nowgorod im Norden und Kiew im Süden bildeten die ersten Zentren.

Durch die Uneinigkeit der Fürsten der Rus hatten die Tataren (Mongolen) leichtes Spiel und konnten fast zwei Jahrhunderte lang ihre Vorherrschaft aufrechterhalten. Erst die vereinten russischen Armeen unter dem Moskauer Großfürsten Dmitri Donskoi konnten die „Goldene Horde“ 1380 in der Schlacht von Kulikow endlich schlagen. Im Norden hatten die Nowgoroder unter Alexander Newski 1240 eine Invasion der Schweden in der Schlacht an der Newa und 1242 die deutschen Kreuzritter vernichtend geschlagen. Gestärkt durch den Sieg über die Mongolen, kämpften die Moskauer Großfürsten um die Vorherrschaft der Rus. Gestärkt wurden sie durch den Untergang von Byzanz 1453, wodurch Moskau sich die christlich-orthodoxen Traditionen aneignete und seither als das „Dritte Rom“ gilt.

Im Westen war Polen-Litauen aufgestiegen, eine von der Feudalaristokratie gestützte föderale Wahlmonarchie, die bis heute offensichtlich in den Köpfen der Warschauer Führer eine in praktische Politik umzusetzende Bezugsgröße ist. Es kam seit Ende des 15. Jahrhunderts zu zahlreichen Kriegen. Polen-Litauen erstreckte sich, eine russische Schwächeperiode nutzend, in seiner größten Ausdehnung, 1619, von der baltischen Ostseeküste bis zum Schwarzen Meer und von Schlesien bis Moskau. Allerdings führte die starke Überdehnung der polnisch-litauischen Fähigkeiten zu einem raschen Zerfall des zusammengeraubten Reiches. Österreich, Preußen und Russland teilten das Land Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach untereinander auf. Nach der dritten Teilung 1795 existierte die polnisch-litauische „Adelsrepublik“ nicht mehr.

Bedrohung aus dem Westen

Zur gleichen Zeit begannen die aus der Revolution von 1789 siegreich hervorgegangenen expansiven Kräfte Frankreichs das Momentum der Revolution zu nutzen, um sich zur dominanten Macht Europas aufzuschwingen. Napoleon Bonaparte hatte 1812 für seinen Feldzug gegen Russland eine Koalitionsarmee aus 15 Ländern und Fürstentümern Europas zusammengezogen. Ein Muster, das bis heute Geltung hat. Nach der extrem blutigen Schlacht bei Borodino, etwa 100 Kilometer westlich von Moskau, musste Napoleon im September 1812 erkennen, dass er den Gegner unterschätzt hatte. Als er wenig später Moskau erreichte, war seine Armee bereits auf ein Sechstel zusammengeschrumpft. Die katastrophale Niederlage des französischen Hegemonieversuchs war nicht mehr abzuwenden.

Zweihundert Jahre später versuchten sich das Deutsche Kaiserreich und sein Erbe, der deutsche Faschismus, an einer Neuauflage der napoleonischen Großmachtpläne. Die nun mit den Mitteln industrieller Großproduktion und der Rekrutierung von Millionenarmeen radikalisierte Kriegführung, begleitet von beispiellosen Vernichtungsprogrammen, machte diesen Zweiten Dreißigjährigen Krieg (1914 – 1945) zu einem der furchtbarsten Einzelereignisse der Weltgeschichte, in dem allein mehr als 30 Millionen Menschen im zaristischen Russland beziehungsweise der Sowjetunion starben.

Einkreisung

Die Oktoberrevolution hatte die ideale Legitimationsfolie für die Deutschen Eroberungs- und ebenso für die angelsächsischen Weltherrschafts-Pläne geliefert: Antikommunistisch aufgeladen, ging es von nun an gegen Russland. In den Pariser Vorortverträgen nach dem Ersten Weltkrieg hatten die siegreichen Entente-Mächte das revolutionäre Russland mit einem Cordon sanitaire von extrem konterrevolutionären bis faschistischen Staaten umgeben. Wie seinerzeit dieser Sperrgürtel, der von Finnland über die baltischen Staaten, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die Türkei bis Saudi-Arabien und Iran reichte, suchen heute die US-Kriegsmaschine und ihre NATO-Vasallen Russland nach Westen hin zu isolieren und mit ihren Erstschlagswaffen existentiell zu bedrohen und erpressbar zu machen. Eine der großen Errungenschaften der NATO-Ostlandreiter ist die Wiederbelebung der „Hyäne Europas“. So nannte der britische Premierminister Winston Churchill Polens trittbrettfahrende, ultra-antikommunistische wie antisemitische, profaschistische Feudalelite der 1920er und 30er Jahre. Ebenso wie sich diese 1938 an der Plünderung der Tschechoslowakei beteiligte, sucht sie sich heute an der von Washington dem Untergang preisgegebenen Ukraine zu bereichern.

3912 Pavlichenko in a trench - Geburtshelferin der neuen Weltordnung? - Geschichte, Roter Oktober, Russland, Wertewesten - Hintergrund
Wehrte faschistische Invasoren ab: Scharfschützin Ljudmila Pawlitschenko. (Foto: gemeinfrei)

Der „Wertewesten“ versucht die lange Tradition der russischen Abwehr- und Selbstbehauptungskämpfe vergessen zu machen. In Russland kennt sie jedes Schulkind. In gewisser Weise kristallisiert sich heute im Ukraine-Konflikt eine ähnliche Konstellation heraus wie im Ersten Krimkrieg 1853 bis 1856. Schon damals sahen die durch die industrielle Revolution militärtechnisch und ökonomisch am weitesten entwickelten Staaten Westeuropas, Britannien, Frankreich, Italien (Königreich Sardinien-Piemont), die Chance, den Konflikt des zaristischen Russlands mit dem Osmanischen Reich zu ihren Gunsten auszubeuten und Russland, die dominante Macht des Wiener Kongresses von 1815, strategisch zu schwächen. Das absolutistische Russland war ökonomisch und technologisch gegen die industrialisierten bürgerlichen Westmächte in Rückstand geraten, so dass es diesen Krieg verlor. Im Krimkrieg begann die nur phasenweise taktisch durchbrochene geostrategische Frontstellung der damals europäischen, später europäisch-nordamerikanischen Hauptmächte gegen das zaristische Russland, später gegen die sozialistische Sowjetunion und heute gegen die kapitalistische Russische Föderation.

Russland heute

Wie schon Napoleon nach der Schlacht bei Borodino müsste, wenn Rationalität noch eine Rolle spielen würde, die Führung in Washington erkennen, dass sie den Gegner unterschätzt hat. Russland widersteht nicht nur dem monetär-ökonomischen Krieg, sondern auch der mit allen verfügbaren Mitteln hochgerüsteten Ukraine. Nicht Russland ist ruiniert, wie Außenministerin Annalena Baerbock halluziniert, sondern die Sanktionen treffen immer stärker ihre Absender. Der Globale Süden wendet sich mit Riesenschritten den alternativen, vom Imperialismus unabhängigen Organisationen der eurasischen und globalen Integration zu.

Russland ist ein föderal gegliederter Vielvölkerstaat, bestehend aus acht Föderationskreisen und 83 Föderationssubjekten, in dem über 100 Ethnien zusammenleben. Seine große Geschichte umfasst selbstverständlich auch die 74 Jahre des Roten Oktober, eine der großen „Lokomotiven der Weltgeschichte“, wie auch den Großen Vaterländischen Krieg und die Befreiung Europas vom Faschismus. Sie umfasst die Jahre der Sowjet-Stagnation, der, um es zurückhaltend auszudrücken, Naivität und Ratlosigkeit Gorbatschows, wie auch des Jelzinschen Ausverkaufs an das Finanzkapital. Im letzten Vierteljahrhundert, dem Wladimir Putin seinen Stempel aufgedrückt hat, ist Russland auf die Weltbühne als die souveräne Macht zurückgekehrt, die dem mit allen Mitteln entfesselten hybriden Krieg des US-geführten „Wertewestens“ widerstanden hat und nun gemeinsam mit der VR China die Errichtung einer von Washington unabhängigen Staatengemeinschaft des Globalen Südens initiiert und organisiert.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Geburtshelferin der neuen Weltordnung?", UZ vom 29. September 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Auto.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit