Nun hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) zu den Sanktionen im SGB II gesprochen. Das Positive: Entgegen Befürchtungen der Erwerbslosen, der Sozialberater und der Betroffenen-Anwälte hat das BVG alle Sanktionen über 30 Prozent für verfassungswidrig erklärt.
Nicht nur das, auch die Regelungen, die Höhe und die Dauer der Sanktionen sind nicht verfassungsgemäß. Damit ist endlich ein Pflock in die von den bürgerlichen Parteien so vehement verteidigten Sanktionsregelungen eingeschlagen. Zudem lassen sich viele Punkte der Begründung des BVG als Argumente zur Abschaffung aller Sanktionen verwenden.
Spannend in diesem Zusammenhang war, ob das BVG beim Tenor des Urteils von 2010 bleibt oder ob es wieder dahinter zurückfällt. Das vorliegende Urteil zeigt deutlich, wie schwer sich die Bundesrichter damit getan haben, zum einen nicht hinter das Urteil von 2010 zurückzufallen, zum anderen Sanktionen nicht generell für verfassungswidrig zu erklären.
Das Urteil von 2010 hat die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums aus der Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Grundgesetz) abgeleitet. Daraus ergibt sich zwingend, dass das soziokulturelle Existenzminimum unverfügbar und unabdingbar ist. Es gibt nichts, was den Staat berechtigt, dieses Minimum zu mindern. Im aktuellen Urteil haben die Bundesrichter mehrfach darauf hingewiesen, dass eine Teilung des soziokulturellen Existenzminimums in physisches Überleben und soziale Teilhabe unzulässig ist. Außerdem ist die Gewährleistung nicht von persönlichem Wohlverhalten abhängig, sondern gilt auch bei schwersten Verfehlungen.
Trotzdem hat das BVG Sanktionen bis zu 30 Prozent des Regelbedarfes für verfassungsgemäß erachtet, da der Gesetzgeber angeblich ein Recht habe, die Pflichterfüllung der ALG-II-Bezieher per Sanktionen zu erzwingen. Jedoch sind diese an verschiedene Bedingungen geknüpft:
• Die Sanktionen müssen verhältnismäßig sein, das heißt, sie müssen in einer vernünftigen Relation zum Ziel, nämlich der Überwindung der Bedürftigkeit stehen.
• Die Sanktionen setzen voraus, dass die Betroffenen die reale Möglichkeit haben, ihre Pflichten auch zu erfüllen. Sollte das nicht der Fall sein, wäre jede Sanktion verfassungswidrig.
• Die Sanktionen müssen geeignet sein, die gewünschte Pflichterfüllung auch zu erreichen. Ist abzusehen, dass das Ziel nicht erreicht wird, wäre die Sanktion eine Strafe und damit ebenfalls verfassungswidrig.
• Die Sanktionen müssen auf den Einzelfall abgestellt werden, und daher muss die Möglichkeit der Reduzierung oder der Nicht-Sanktionierung gegeben sein. Eine Automatik ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Zur Frage, warum eine Sanktionierung von 30 Prozent und nicht mehr zulässig ist, stellen die Richter fest, dass sich der Regelbedarf aus Pauschalbeträgen für die einzelnen Bereiche wie Wohnen, Kleiden, Essen zusammensetzt, die für sich genommen sehr knapp bemessen und nur in der Gesamtschau gerade noch verfassungsgemäß sind.
Eine Minderung um mehr als 30 Prozent würde negative Auswirkungen auf die Beträge für Lebensmittel und Kleidung haben und zöge eine drastische Beeinträchtigung des Lebens nach sich, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wird.
Erschreckend ist jedoch, dass die Bundesrichter tatsächlich dem Gesetzgeber empfehlen, in den Fällen, in denen eine „zumutbare“ Arbeit nicht aufgenommen wurde, einen vollständigen Leistungsentzug vorzunehmen. Damit widersprechen sie ihrer eigenen Argumentation, dass das Existenzminimum auch bei schwersten Verfehlungen zu gewähren ist.
Für die Praxis der Sozialberatung bedeutet das, dass noch mehr als bisher auf Widerspruch und Klage zu orientieren ist, da mit dem erweiterten Ermessen der Jobcenter grundsätzlich die Frage geprüft werden muss, ob dieses pflichtgemäß ausgeübt wurde.
Für Kommunistinnen und Kommunisten sowie für alle auf der Seite der ALG-II-Bezieher stehenden Organisationen bedeutet das Urteil die Verpflichtung, den politischen Druck in Richtung einer kompletten Abschaffung der Sanktionen zu erhöhen. Argumentationshilfen liefert die Urteilsbegründung reichlich. Wir müssen sie nur nutzen!