Es war der langweiligste Bundestagswahlkampf, seit es die Bundesrepublik gibt. Das haben Wahlexperten festgestellt, die die „UZ“ in den ersten beiden Septemberwochen befragt hat. Danach hat diese Bundestagswahl mit 9,3 Punkten den höchsten Langweiligkeitswert aller bisher beobachteten Wahlen zum deutschen Bundestag erzielt. 10 Punkte stellen den höchsten Langweiligkeitswert dar, während Wahlkämpfe zwischen 0 und 5 Punkten als vergleichsweise spannend oder zumindest etwas interessant gelten. Den zweiten Platz in der Langweiligkeitsskala belegte mit 8,9 Punkten der Bundestagswahlkampf 1994, der bei der Spitzenposition zwischen dem Pfälzer und Bundeskanzler Helmut Kohl und dem damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und SPD-Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping ausgefochten wurde.
Langweilig ist ein Wahlkampf vor allem dann, wenn die Politiker der größten Parteien hohe Übereinstimmungswerte zeigen. Dies war 1994, aber auch bei den vergangenen drei Wahlen 2005, 2009 und 2013 der Fall. Der Wahlkampf 2017 allerdings dürfte in dieser Beziehung schwer zu übertreffen gewesen sein.
Die SPD-Führung, repräsentiert durch Sigmar Gabriel (Parteivorsitzender, Wirtschaftsminister und Vizekanzler), Frank-Walter Steinmeier (Außenminister, dann Bundespräsident) und Thomas Oppermann (Fraktionsvorsitzender), orientierte auch in Detailfragen auf ein enges Bündnis mit den führenden Parteien CDU und CSU. Wirtschaftspolitisch und und in der EU-Politik folgte die SPD den Vorgaben von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Außenpolitisch ließ sie sich an Aufrüstungswillen, Bündnistreue zu den USA und dem Willen zu militärischen Expeditionen nicht von der CDU/CSU übertreffen. Bei den Themen Demokratieabbau und Immigration folgte die SPD treu der Linie der CDU. Die organisierte, sich wie auch bei anderen Wahlkämpfen zuvor, eine interne Opposition mit der CSU, was keine Wahlkampfspannung erzeugte.
Im Januar 2017 übergab die SPD-Führung Martin Schulz den Parteivorsitz und die Rolle des Kanzlerkandidaten, um den Anschein zu erwecken, die SPD fordere unter dem Stichwort „Gerechtigkeit“ eine andere Politik, als die der bisherigen Koalition. Selbst Schulz‘ verlegene Bemerkungen, vielleicht ein ganz klein wenig an der liberal-reaktionären Politik von Kanzler Gerhard Schröder (1998 bis 2005) und Angela Merkel ändern zu wollen, wurden jedenfalls unterbunden. Die bis Anfang März dauernde Zustimmung für Schulz fiel in sich zusammen. Für alle Wähler wurde erkennbar, dass die SPD exakt die Politik wie bisher machen wollte, und dass die SPD-Führung das Ziel hatte, wieder als Juniorpartner in der Koalition mit der Union gebraucht und akzeptiert zu werden.
„Langweilig“ heißt nicht bedeutungslos – auch bei Wahlkämpfen nicht. Nach der Wahl am Sonntag wird wahrscheinlich zum ersten Mal in der BRD-Geschichte mit der AfD eine offen rechtsradikale Partei in den Bundestag einziehen. Zugleich wird vermutlich eine rechte Traditionspartei, die FDP, in den Bundestag zurückkehren.
Damit wird die seit einigen Jahren beschleunigt betriebene Rechtsentwicklung vom Wahlbürger bestätigt und zur politischen Normalität. Die AfD hat sich aus nationalistischen Kräften der etablierten Parteien, insbesondere der CDU, entwickelt. Ihre Programmatik ist den Regierungsparteien sehr ähnlich. Ihr öffentlicher Auftritt fängt Wut und Protest gegen wirkliches und vermeintliches Unrecht ein (Populismus). Eine vom politischen Establishment nur halb akzeptierte Rechtspartei dieser Art macht die AfD für das politische Herrschaftsgefüge wertvoll. Im Wahlkampf ist diese Halbakzeptanz der AfD langsam, fast unmerklich und ganz ohne Spannung vollzogen worden.
In welcher Reihenfolge bei der Stimmenzahl die AfD und die drei mittelgroßen Parteien FDP, „Grüne“ und „Linke“ bei der Wahl abschneiden, ist die einzige Frage, die im zu Ende gehenden Wahlkampf einen Rest Spannung bot. Dass die „Linke“ in diesem Wahlkampf nicht geschlossen zur anderen Seite im Klassenkampf überlaufen werde, auch weil sie kein Angebot zum Überlaufen erhielt, war schon früh klar. Ihren gewissen Wert als parlamentarische Opposition hat sie damit für die Bürger des Landes vorerst erhalten.
Das Spannungselement der Kandidatur der DKP (vgl. Spalte rechts), die nach Jahrzehnten der Nichtteilnahme unter eigenem Namen antritt, vermochten die von der „UZ“ befragten Experten nicht abzuschätzen. Eine der Befragten wies darauf hin, dass kleine Ereignisse dieser Art gelegentlich Langzeitwirkung von großer Bedeutung zur Folge haben.