Seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima sind fünf Jahre vergangen. Dennoch gehört sie nicht der Vergangenheit an. Für den 11. März hatte unter anderem die Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“ zu einem bundesweiten Aktionstag aufgerufen. Vielerorts sind ihm Menschen gefolgt. Sie wollten Druck machen, dass die letzten acht Atommeiler in Deutschland endlich abgeschaltet werden, und sie wollten darauf aufmerksam machen, dass die Gefahr weiterer Atomunfälle keineswegs gebannt ist.
Einige Tage zuvor hatte auch die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die von europäischen Atomkraftwerken ausgehen. Besonders die Altmeiler seien gefährlich. Laut Online-Magazin „EurActiv“ bezeichnete der stellvertretende IPPNW-Vorsitzende, Alex Rosen, die besonders umstrittenen belgischen AKWs Tihange und Doel als „tickende Zeitbomben“. Besonders gefährdet ist nach Rosens Meinung die Region Nordrhein-Westfalen. Gegen das Wiederanfahren der beiden Kraftwerke will die Aachener Städteregion juristisch vorgehen (UZ berichtete am 22. Januar). Letzte Woche haben die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zudem beschlossen, eine Beschwerde bei der EU-Kommission einzureichen, weil die Belgier für die Verlängerung der Laufzeiten der Reaktoren Tihange 1 sowie Doel 1 und 2 keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt hatten.
Das Risiko eines gravierenden Atomunfalls bestehe allerdings nicht nur für Belgien, sondern für alle umliegenden Länder. Neben Tihange und Doel rechnet Rosen auch das tschechische Atomkraftwerk Temelin, die beiden französischen Pannenmeiler Cattenom und Fessenheim, mehrere ukrainische Kraftwerke und den letzten verbliebenen deutschen Siedewasserreaktor in Gundremmingen zu den „größten Risiko-AKW“ in Europa. Es müsse aber nicht immer nur ein „Altreaktor aus Osteuropa sein“, warnte Rosen. „Kein Land der Welt, kein Atomreaktor ist zu hundert Prozent sicher, überall kann es jeden Tag zu einer Atomkatastrophe kommen.“ Besonders deutlich sei das geworden bei den erst kürzlich aufgedeckten Skandalen im AKW Fessenheim. Eine Beinahe-Katastrophe war jahrelang vertuscht worden.
In Fukushima kam es am 11. März 2011 in mehreren Reaktoren zur Kernschmelze, weil infolge eines schweren Erdbebens und eines Tsunamis das Kühlsystem ausgefallen war. Drei von sechs Reaktoren wurden dabei zerstört, die umliegenden Gebiete radioaktiv verseucht. Zehntausende Menschen mussten ihre Heimat verlassen – ob sie jemals wieder zurückkehren können, ist zweifelhaft, denn die Aufräumarbeiten sollen noch etliche Jahrzehnte dauern. Rosen fordert deshalb eine seriöse und unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zu den Folgen von Fukushima. Doch in Japan gebe es große Interessen, diese Untersuchung zu verhindern. „Die in Japan einflussreiche Atomlobby und die Atomwirtschaft haben daran kein Interesse“, kritisierte Rosen. Das Problem wird noch dadurch vergrößert, dass wissenschaftliche Studien beispielsweise zum Schilddrüsenkrebs von der Atomlobby finanziert werden. Die Fukushima Medical University führt eine solche Studie durch und wird dabei von der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO finanziell unterstützt, was die Neutralität der Studie infrage stellt.
Bereits im Februar hatte die IPPNW ihren Bericht „5 Jahre Leben mit Fukushima – 30 Jahre Leben mit Tschernobyl“ veröffentlicht. Die Gesundheit der Menschen wird bis heute stark beeinträchtigt. Der Bericht gibt einen Überblick über den Stand der Forschungen zu den Folgen der beiden Katastrophen. So wird auch darauf hingewiesen, dass die sogenannte „Niedrigstrahlung“ wesentlich gefährlicher ist als bislang angenommen.
Auch nach dem Reaktorunglück tritt in Fukushima immer noch Radioaktivität aus: Nach Angaben des Kraftwerksbetreibers TEPCO fließen Tag für Tag rund 300 Tonnen radioaktives Abwasser ins Meer. „Millionen von Menschen wurden und werden seit Beginn der Katastrophe erhöhten Strahlendosen ausgesetzt – vor allem in den Regionen mit relevantem radioaktiven Niederschlag, aber auch in weniger belasteten Teilen des Landes, wo Menschen mit verstrahltem Trinkwasser und radioaktiv kontaminierter Nahrung konfrontiert werden“, heißt es in einer IPPNW-Mitteilung.
Auch der GAU von Tschernobyl trifft noch immer Millionen Menschen weltweit: mehr als 830 000 Aufräumarbeiter, 350 000 Evakuierte aus der 30- km-Zone und anderen stark verseuchten Regionen, rund 8,3 Millionen Menschen aus den stark strahlenbelasteten Regionen in Russland, Weißrussland und der Ukraine sowie 600 Millionen Menschen in anderen Teilen Europas, die geringeren Strahlendosen ausgesetzt wurden. Damals gingen rund 36 Prozent der gesamten Radioaktivität über Russland, der Ukraine und Weißrussland nieder – 53 Prozent über dem Rest Europas. Elf Prozent verteilten sich über dem restlichen Globus. Die Folge waren ein rasanter Anstieg verschiedener Krebsarten. Aber auch Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems und der Lungen nahmen deutlich zu. Die Zahl der Fehlbildungen bei Embryonen stieg damals in ganz Europa.
Betrachte man die wichtigsten internationalen Forschungsergebnisse, so liegt die Zahl der zu erwartenden tschernobylbedingten Krebserkrankungen bei bis zu 850 000, heißt es in der IPPNW-Mitteilung. In Japan sind im Laufe der nächsten Jahrzehnte rund 10 000 zusätzlicher Krebsfälle zu erwarten – im günstigen Fall. Lege man aber den Berechnungen realistischere Faktoren zugrunde, komme man auf bis zu 66 000 zusätzlicher Krebsfälle, von denen wohl die Hälfte zum Tode führen wird.