Ist Deutschland rettungslos verloren? Nein, es kann gerettet werden, noch heute, noch morgen, vor der äußeren Zerstörung, die ihm droht: durch eine demokratische Revolution, durch die entschlossene Beseitigung des weltunmöglichen Raub- und Mordregimes, das diesen Krieg entzündet hat und dessen Verschwinden Deutschland friedensfähig machen würde.“
Mit diesen Worten begrüßte Thomas Mann in einer Rundfunkrede vom 29. September 1943 die Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ (NKFD), das am 12. und 13. Juli 1943 auf Initiative der KPD in Krasnogorsk bei Moskau gebildet wurde. Es vereinte kriegsgefangene Wehrmachtsangehörige, antifaschistisch eingestellte Arbeiter, Bauern und Angehörige der Intelligenz mit Reichstagsabgeordneten der KPD, Gewerkschaftern, Schriftstellern und Christen beider Konfessionen.
Das NKFD war seiner Zusammensetzung und Zielsetzung nach ein wahrhaft nationales Komitee. In einem Zeitungsbericht über die Konferenz heißt es: „Erich Weinert, der Vorsitzende des Vorbereitenden Ausschusses, erhebt sich zur einleitenden programmatischen Rede. Einer nach dem anderen folgen ihm am Rednerpult die Delegierten, Männer vom Pflug und Schraubstock im Soldatenrock, Männer der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens im Offizierskleid, Teilnehmer des Ersten Weltkrieges, die zwei Jahrzehnte und mehr für die Rechte des Volkes gekämpft haben, Jünglinge, die der Zweite Weltkrieg aus dem Hörsaal, aus der Fabriklehre, aus der eben gegründeten Familie gerissen hat.“
Eine solche Breite und Zusammensetzung der Kräfte, die sich für übereinstimmende Ziele im Kampf gegen Faschismus und Reaktion, für demokratische Verhältnisse und ein freies, unabhängiges Deutschland einsetzten, wurde durch das NKFD erstmalig erreicht.
Die Erfolge der Roten Armee im Winter 1942/43 gaben den Völkern neue Hoffnung für die Zukunft. Es wuchs die Zahl derjenigen, die die Überzeugung gewannen, dass die militärische Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus unvermeidlich geworden war.
Das führte zum Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegungen in den von Hitlerdeutschland okkupierten Ländern – in Skandinavien ebenso wie in West-, Süd- und Osteuropa. Sie kämpften gleichermaßen gegen die faschistischen Besatzer wie gegen die einheimische Reaktion.
Nach der Stalingrader Schlacht reifte auch in Deutschland die innenpolitische Krise heran. Sie erfasste sowohl den militärischen als auch den wirtschaftlichen und den politisch-moralischen Bereich. Sie war in der ganzen Bevölkerung spürbar und erfasste auch die Soldaten und Offiziere der faschistischen Wehrmacht.
Ausdruck der Krise des Hitlerregimes waren dessen mit der „totalen Mobilmachung“ Anfang 1943 eingeleiteten politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die das Ziel hatten, die Rüstungsproduktion maximal zu steigern und alle menschlichen und materiellen Reserven für die Kriegswirtschaft und den Krieg zu mobilisieren.
Der Sieg der Roten Armee in der Schlacht im Kursker Bogen im Juli und August 1943 und ihre erfolgreichen Operationen während der Folgemonate vollendeten aber einen grundlegenden Umschwung im Zweiten Weltkrieg.
Unter diesen Bedingungen entwickelte die KPD ihr antifaschistisches Konzept, das unter anderem zur Gründung des NKFD führte. Am 28. Januar 1943 erörterte die Parteiführung die Lage in Deutschland und leitete entsprechende Aufgaben ab. Am 11. Februar wurde über den weiteren Weg des deutschen Volkes nach dem Sturz Hitlers und dem Ende des Krieges beraten. Eine Woche später gingen Arbeitsgruppen zur Ausarbeitung praktischer Vorschläge für die einzelnen Bereiche über.
Auf Versammlungen in Kriegsgefangenenlagern wurde vorgeschlagen, alle deutschen Hitlergegner unter Führung eines nationalen Komitees zusammenzuführen.
Im Mai und Juni wurden dahingehende Vorschläge erörtert. So hielt sich Wilhelm Pieck, Vorsitzender der KPD, vom 18. bis zum 28. Juni 1943 im Lager für kriegsgefangene Offiziere in Susdal auf, um die anstehenden Fragen gemeinsam zu beraten. Er hatte auch eine Unterredung mit Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, der darüber später berichtete: „Diese Aussprache war für uns Generale der erste Anstoß, über den engeren Bereich unseres rein militärischen Denkens hinaus – wenn auch zunächst nur tastend – uns auch mit den gesamten politischen Zusammenhängen zu befassen.“
Im Anschluss an weitere derartige Beratungen wurde ein „Vorbereitender Ausschuss für die Bildung eines deutschen Nationalkomitees“ gewählt, der vom Schriftsteller Erich Weinert geleitet wurde.
Nach den zweitägigen Beratungen in Krasnogorsk verabschiedeten die Delegierten einmütig das „Manifest des Nationalkomitees ‚Freies Deutschland‘ an die Wehrmacht und an das deutsche Volk“.
Darin wurden die Beendigung des Krieges und die schnelle Herbeiführung des Friedens als der einzig mögliche Weg zur Rettung des Bestandes, der Freiheit und der Ehre der deutschen Nation bezeichnet. „Das deutsche Volk braucht und will unverzüglich den Frieden“, wurde im Manifest erklärt.
Dafür wurden der Sturz der Hitlerregierung und „die Bildung einer wahrhaft deutschen Regierung (als) die dringendste Aufgabe unseres Volkes“ bezeichnet.
Diese Forderung trug, ausgehend von der starken Zuspitzung der nationalen Frage in Deutschland, der Notwendigkeit und Möglichkeit Rechnung, diese Regierung auf eine breite soziale Grundlage zu stellen. Die antifaschistischen Vertreter aller Volksschichten sollten sich eine gemeinsame politische Plattform zum Kampf für die Beendigung des Krieges und für die Schaffung eines freien, unabhängigen Deutschlands erarbeiten.
Die aus dem antifaschistischen Kampf des Volkes und der „volks- und vaterlandstreuen Kräfte in der Armee“ hervorgegangene demokratische Regierung sollte den Krieg sofort beenden, die deutschen Truppen an die Grenzen Deutschlands zurückziehen, unter Verzicht auf alle eroberten Gebiete Friedensverhandlungen einleiten und so das deutsche Volk wieder „in die Gemeinschaft gleichberechtigter Völker zurückführen“. Auf diese Weise sollte die neue Regierung Bedingungen dafür schaffen, dass das deutsche Volk in Frieden seinen nationalen Willen frei bekunden und seine demokratische Staatsordnung souverän gestalten konnte.
Angestrebt wurde „(e)ine starke demokratische Staatsmacht, die nichts gemein hat mit der Ohnmacht des Weimarer Regimes, eine Demokratie, die jeden Versuch des Wiederbelebens von Verschwörungen gegen die Freiheitsrechte des Volkes oder gegen den Frieden Europas rücksichtslos schon im Keim erstickt“.
Alle Zielsetzungen stimmten mit den Grundsätzen und Zielen der Antihitlerkoalition überein, wie sie später im Potsdamer Abkommen vereinbart wurden.
Schwierigkeiten ergaben sich im Prozess der Formierung des NKFD hinsichtlich der Gewinnung kriegsgefangener höherer Offiziere und der Generäle, die Bedenken und Vorbehalte gegenüber dem NKFD äußerten, noch nicht an die unvermeidliche Niederlage Hitlerdeutschlands glaubten und starke Zweifel an der Kraft des Volkes hegten.
Den Weg zur Einbeziehung auch dieser Kräfte öffnete die Gründung des Bundes Deutscher Offiziere (BDO), dessen Gründungskonferenz am 11. und 12. September 1943 in Lunjowo bei Moskau stattfand. Schon kurz darauf wurde der BDO mit dem NKFD zusammengeschlossen.
Bis Frühjahr 1945 traten dem BDO rund 4.000 Offiziere bei, darunter ein Generalfeldmarschall, 31 Generale und etwa 40 Oberste.
Das NKFD und der BDO entfalteten an der sowjetisch-deutschen Front eine umfangreiche antifaschistische Tätigkeit, die ständig zunahm.
Das NKFD entwickelte sich auch zum politischen und organisatorischen Zentrum der deutschen Antifaschisten in vielen kapitalistischen Ländern. Es führte antinazistische Vereinigungen von Emigranten und fortschrittliche Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Politiker zusammen. Organisationen des NKFD bildeten sich von der Schweiz und Frankreich bis Jugoslawien und Griechenland. Organisationen, Gruppen und Einzelpersönlichkeiten wirkten auch in mittel- und südamerikanischen Ländern sowie den USA.
Mit der Schaffung des NKFD begann ein neuer Abschnitt im antifaschistischen Widerstandskampf. Es wurden wesentliche Bedingungen geschaffen, die es ermöglichten, nach der Befreiung eine Bündnispolitik zu entwickeln, um im Sinne des Potsdamer Abkommens für ein demokratisches und friedliches Deutschland wirksam zu werden.
„Ist Deutschland rettungslos verloren? Nein, es kann gerettet werden, noch heute, noch morgen, vor der äußeren Zerstörung, die ihm droht: durch eine demokratische Revolution, durch die entschlossene Beseitigung des weltunmöglichen Raub- und Mordregimes, das diesen Krieg entzündet hat und dessen Verschwinden Deutschland friedensfähig machen würde.“