Vor 100 Jahren wurde in Russland die zaristische Herrschaft beseitigt

Für Frieden und Brot

Von Nina Hager

Zweieinhalb Kriegsjahre hatten genügt, um die zaristische Herrschaft in Russland vollständig zu zerrütten. Hunger und Elend herrschten im Russland der Romanows. Die Not der Volksmasse hatten sich während des imperialistischen Ersten Weltkrieges, der gerade Russland die größten Opfer abverlangte, ungeheuer verschärft. Die Mehrheit der Menschen sehnte sich nach Frieden. Die Antikriegspropaganda – vor allem die der Bolschewiki – fand auch unter den Soldaten an der Front und den Matrosen auf den Kriegsschiffen immer mehr Zustimmung.

Ein großer, mächtiger und allgewaltiger „Regisseur“

Dennoch war der Krieg nur das auslösende Moment, „ein großer, mächtiger und allgewaltiger ‚Regisseur’“, wie Lenin in seinem ersten Brief „aus der Ferne“ schrieb (LW, Bd. 23), „der imstande war, einerseits den Gang der Weltgeschichte ungeheuer zu beschleunigen und anderseits weltumfassende Krisen, wirtschaftliche, politische, nationale und internationale Krisen von ungeahnter Intensität hervorzurufen“.

Die Ereignisse des Jahres 1917 wurzelten jedoch vor allem in den tiefgreifenden gesellschaftlichen Widersprüchen, die in den Jahrzehnten zuvor in Russland herangereift waren.

Im Jahre 1913 lebten auf dem Territorium des zaristischen Russlands etwa 160 Millionen Menschen. Die Mehrheit von ihnen waren arme Bauern. Das Land war zum großen Teil in der Hand von reichen Kulaken, von Großgrundbesitzern, vor allem aber der Zarenfamilie sowie der russisch-orthodoxen Kirche. Die Mehrheit der im Land lebenden ca. 200 Nationen, Völkerschaften und ethnischen Gruppen hatten geringe Rechte, wurden unterdrückt. Russland galt als „Völkergefängnis“.

Obgleich sich die kapitalistische Entwicklung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts beschleunigt hatte und Russland zu einem Land von mittlerem kapitalistischem Niveau geworden war, gab es im vorwiegend agrarischen Russland nur fünf industrielle Zentren. Unter der Herrschaft der reaktionären Gutsbesitzerklasse und des zaristischen Staatsapparates blieben zahlreiche halbfeudale Überreste bestehen (Rosenfeld/Schüttler, S. 12). Zusammen mit der kapitalistischen Ausbeutung durch einheimische und vor allem ausländische Kapitalisten und der vorhandenen nationalen Unterdrückung verschärften sich die gesellschaftlichen Widersprüche. Die Zustände drängten zu einer grundlegenden Veränderung.

Lenin schrieb in seinem ersten Brief „aus der Ferne“: „Die erste Revolution (1905) hat den Boden tief aufgewühlt, hat jahrhundertealte Vorurteile ausgerottet und Millionen Arbeiter und Dutzende Millionen von Bauern zum politischen Leben und zum politischen Kampf erweckt, sie hat alle Klassen (und alle wichtigen Parteien) der russischen Gesellschaft voreinander und vor der ganzen Welt in ihrer wahren Natur gezeigt, in dem wirklichen Wechselverhältnis ihrer Interessen, ihrer Kräfte, ihrer Aktionsmethoden, ihrer nächsten und weiteren Ziele.

Die erste Revolution und die darauffolgende Epoche der Konterrevolution (1907 bis 1914) hat das ganze Wesen der Zarenmonarchie bloßgelegt, hat sie an die „äußerste Grenze“ geführt, hat ihre ganze Fäulnis und Niedertracht enthüllt, den ganzen Zynismus und die ganze Verderbtheit der Zarenclique mit dem Ungeheuer Rasputin an der Spitze, alle Bestialitäten der Familie Romanow, dieser Po­grombanditen, die Russlands Boden mit dem Blut der Juden, Arbeiter und Revolutionäre tränkten, die sich als Gutsbesitzer die ‚Ersten unter Gleichen’ nennen, die Millionen Desjatinen Land besitzen und zu jeder Bestialität, zu jedem Verbrechen fähig sind, die bereit sind, jede beliebige Anzahl Menschen zugrunde zu richten und umzubringen, um ihr ‚heiliges Eigentum’ und das ihrer Klasse zu erhalten.“ (Ebenda)

Der Aufstand

Ende 1916 wurde deutlich, dass sich die ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche im Land weiter zuspitzten. Es kam zu erneuten Streiks der Petrograder Arbeiter, zu Hungerrevolten, Demonstrationen, anlässlich des 12. Jahrestages des Petersburger Blutsonntags vom 9. Januar (nach heutigem Kalender 22. Januar) 1905 zu Protestaktionen. Die Massen waren nicht mehr gewillt, die Herrschaft des Zaren, der in- und ausländischen Kapitalisten und der Großgrundbesitzer länger zu ertragen,

Bereits Mitte Februar (nach dem alten Kalender) hieß es – angesichts der immer deutlicher werdenden Krise des Regimes – in einem Flugblatt der Bolschewiki: „Es ist Zeit für den offenen Kampf!“

Am 17. Februar 1917 (nach unserem, dem „gregorianischen Kalender“ am 1. März) begann in Petrograd ein Streik der Putilow-Arbeiter. In den Folgetagen wurden 30 000 ausgesperrt. Es gab Hungerrevolten. Am 23. Februar (7.3.1917) gab es in den Arbeitervierteln in den Bäckereien kein Brot mehr. Es kam vor allem auf der „Wyborger Seite“ zu Protesten. Die Menschen gingen auf die Straße – darunter viele Frauen. Auf der „Wyborger Seite“ gab es Kundgebungen und Demonstrationen. Arbeiter anderer Betriebe, Studenten und Beamte schlossen sich den Protesten an.

Am Abend erreichten die Demonstrierenden den Newski-Prospekt. Am folgenden Tag streikten die Arbeiterinnen in den Petrograder Textilfabriken. Im Laufe des 24. Februar (8. März) kam es in der Stadt zu größeren Zusammenstößen mit Polizeikräften. Unter den Schüssen von Soldaten des Wolhynischen Garderegiments starben 60 Menschen.

Einen Tag später, so berichtete die Zeitung „Russkoje Slowo“ am 2. (15.) März 1917, wurde deutlich, dass die Massenbewegung einen deutlich organisierten Charakter annahm. Über 305000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten. Sozialdemokratische Organisationen, der Metallarbeiterverband, die Druckereiarbeiter und andere Berufs- und Arbeiterorganisationen handelten gemeinsam. „Am 25. Februar (also am 9. März – NH) gab es unter den Arbeitern die Wahl der Arbeiterdeputierten zum Sowjet.“

Noch versuchte die Gegenseite, die Situation unter Kontrolle zu bringen. An jenem 25. Februar richtete sich der Kommandierende des Petrograder Militärbezirks Generalleutnant Chabalow an die Bevölkerung der Stadt: „… Ich verbiete jede Ansammlung in den Straßen. Ich mache die Bevölkerung Petrograds darauf aufmerksam, dass das Militär von mir angewiesen wurde, von der Waffe Gebrauch zu machen und rücksichtslos alles zu unternehmen, um in der Hauptstadt die Ordnung herzustellen.“ Am Abend dieses Tages hieß es in einem Telegramm des Zaren Nikolaus II. an Chabalow: „Ich befehle, den Unruhen in der Hauptstadt … morgen ein Ende zu bereiten.“ Einen Tag später berichtete der Vorsitzenden der Staatsduma, der Gutsbesitzers Rodsjanko, dem Zaren: „Lage ernst. In der Hauptstadt Anarchie. Regierung lahmgelegt. Lebensmittel- und Brennstoffversorgung vollständig desorganisiert. Soziale Unzufriedenheit wächst. Auf den Straßen Schießereien. Truppenteile beschießen einander. Jemand, der das Vertrauen des Landes genießt, muss unbedingt mit Bildung neuer Regierung betraut werden. Es darf nicht gezögert werden. Größte Gefahr im Verzug. Ich flehe zu Gott …“

Am Abend des 27. Februar 1917 (11. März) war die Hauptstadt in der Hand des aufständigen Volkes. Zehntausende Soldaten waren zu diesem Zeitpunkt bereits übergelaufen, schlossen sich den Protesten an. Insgesamt gingen allein in der Hauptstadt über 170 000 Soldaten auf die Seite des Volkes über.

Am 28. Februar (12. März) schickte der Zar vor der Abfahrt aus dem Hauptquartier nach Zarskoje Selo ein Telegramm an seine Frau: „Sind heute morgen um 5 Uhr abgefahren. In Gedanken immer bei Dir. Herrliches Wetter. Hoffe, Du fühlst Dich wohl und bist ruhig. Viele Truppen von der Front hingeschickt. Mit zärtlicher Liebe Niki.“

Am gleichen Tag kam die Nachricht, dass es auch in Moskau zu Streiks und Demonstrationen gekommen war.

Am 2. März (15.3.) vereinbarten Duma und der Arbeiter- und Soldatenrat von Petrograd, dass der Zar abgesetzt sei und eine Provisorische Regierung gebildet werde.

Eine siegreiche Volksrevolution

Die Februarrevolution war – in der Epoche der Herausbildung des Monopolkapitalismus (Imperialismus) – die erste siegreiche Volksrevolution, noch eine bürgerlich-demokratische Revolution. Doch auch in dieser Revolution war die Arbeiterklasse, wie schon in der von 1905 bis 1907, die führende Kraft. Gemeinsam mit ihren Verbündeten schufen die Arbeiterinnen und Arbeiter revolutionäre Machtorgane, die Sowjets (Räte) der Arbeiter- und Soldatendeputierten.

Dennoch waren es nicht die Sowjets, die nach dem Sieg des Aufstands die Regierung bildeten. In ihrer Mehrzahl beherrscht von den Führern der kleinbürgerlichen Parteien, der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, ließen es die Sowjets, vor allem der wichtige Petrograder Sowjet, zu, dass nach dem Sturz des Zaren Mitglieder der nach 1905 geschaffenen Reichsduma eine Provisorische Regierung bildeten, deren Klassencharakter Lenin sofort aufdeckte (siehe auch UZ vom 17. Februar, S. 8). Im Ergebnis der Februarrevolution entstand zunächst eine Doppelherrschaft. Die Ziele der Aufständischen – Frieden, Brot – wurden nur teilweise erreicht. Die neue Regierung führte den Krieg fort.

Die Bolschewiki, erst in der Februarrevolution aus der Illegalität gekommen, versuchten überall die revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten zur Bildung von Sowjets, zur Sicherung der Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen Revolution und zum Kampf gegen die imperialistische Kriegspolitik der Regierung zu gewinnen. Ihr Einfluss wuchs in den folgenden Monaten. Und bis zum Oktober 1917 stieg ihre Zahl von etwa 24000 (Februar) auf etwa 350 000.

Bereits in seinem ersten Brief „aus der Ferne“ schrieb Lenin, der erst etwa einen Monat später nach Russland zurückkehren konnte: „Die erste vom imperialistischen Weltkrieg erzeugte Revolution ist ausgebrochen. Diese erste Revolution wird sicher nicht die letzte sein.“ (Ebenda)

Quellen:

Günter Rosenfeld; Horst Schützler: Kurze Geschichte der Sowjetunion. 1917–1983, Berlin 1985

Roswitha Czollek; Lothar Kölm: Roter Oktober. Zeitenwende im Protokoll, Berlin 1977

Illustrirowannaja Istorija SSSR, Moskwa 1977

E. G. Kostrikowa; S. P. Kostrikow: Ot fewralja k oktjabrju, Pskow 2012

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Für Frieden und Brot", UZ vom 3. März 2017



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit