Der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas und die multipolare Welt

Für eine dauerhaft friedliche Welt

Wolfram Adolphi

Vom 16. bis 22. Oktober 2022 tagte in Peking, der Hauptstadt der Volksrepublik China, der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), chinesisch: der Gongchandang. Es war für die Partei und das Land, in dem sie eine unbestrittene Führungsrolle beansprucht, ein planmäßiges Ereignis. Seit dem 11. Parteitag im August 1977 findet sich die KPCh regelmäßig aller fünf Jahre zu ihrem zentralen Kongress zusammen; der 18. Parteitag hatte im November 2012 stattgefunden, der 19. im Oktober 2017. In langer Tradition gibt es auf diesen Parteitagen den Bericht des Zentralkomitees, der vom Parteivorsitzenden vorgetragen und als Schlüsseldokument der Partei- und Staatsentwicklung sowohl in der Bilanzziehung als auch in der Festlegung der gesamtgesellschaftlichen Vorhaben in den nächsten Jahren und Jahrzehnten begriffen wird.

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Der wiedergewählte Vorsitzende der KP Chinas, Xi Jinping, berichtet dem 20. Parteitag. (Foto: Xinhua/Rao Aimin)

Der diesjährige Parteitag fand in einer Weltlage statt, die in Ost und West und Süd und Nord weitgehend übereinstimmend als sehr dramatisch beschrieben wird. Mehrere schwere Krisen treffen aufeinander, überlagern sich, und es entsteht ein hochexplosives Gemisch an unberechenbaren Situationen, von denen jede einzelne in eine große Menschheitskatastrophe münden kann. Die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine mit seinen geopolitischen Implikationen und weltwirtschaftlichen Konsequenzen, die „vergessenen“ Kriege im Jemen, in den kurdisch bewohnten Regionen im türkisch-syrisch-irakischen Grenzgebiet und in Nordafrika, das „vergessene“ Afghanistan; die unveränderten Spannungen in Nahost; die Spannungen in der Pazifikregion Südostasiens – nirgends scheint derzeit Entspannung auf; stattdessen überall Konfrontation, Verhärtung.

Angesichts dessen müsste man meinen, dass einem Parteitag der KP Chinas – mithin der mit 95 Millionen Mitgliedern nach der indischen BJP zweitgrößten Partei der Welt, die den Kurs des mit 1,4 Milliarden Menschen bevölkerungsreichsten Staates der Welt bestimmt – überall auf der Erde mit größtem Interesse und größter Wissbegier begegnet wird. Wo sieht die Führung der Partei den Platz ihres Landes – das im Übrigen an den genannten kriegerischen Konflikten nirgendwo beteiligt ist – in der Welt? Wie stellt sie sich die weitere Entwicklung Chinas vor? Wie glaubt China die verschiedenen Krisen bewältigen zu können? Allein – oder mit wem gemeinsam?

Aber in den westlichen Leitmedien ist von Wissbegier keine Spur. Die Überschriften standen schon fest, ehe der Parteitag überhaupt begann. „Xi Jinping zementiert seine Macht“ – so lautete die gebetsmühlenartig wiederholte Hauptnachricht. Inhaltliches hingegen – kaum. Ein uraltes Muster der Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, der Missachtung, des Desinteresses und der Konfrontation hat sich auch diesmal wieder durchgesetzt, und es besteht angesichts des offenen Wirtschaftskriegskurses der USA und der NATO kaum Hoffnung, dass sich das ändern könnte.

Entwicklung nicht gegen jemand, sondern für sich selbst

Diese Grundstimmung bedenkend erklärte der chinesische Botschafter in Deutschland, Wu Ken, am 30. September 2022 auf einem Empfang anlässlich des 73. Nationalfeiertages der Volksrepublik China und des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland (gemeint ist die BRD 1972; die DDR hatte seit 1949 diplomatische Beziehungen mit der VR China) in Berlin vor seinem überwiegend deutschen Publikum, dass China die eigene Entwicklung nicht vorantreibe, „um andere herauszufordern, zu ersetzen oder mit ihnen zu konkurrieren, sondern um dem chinesischen Volk ein besseres Leben zu ermöglichen und zu einer besseren Version seiner selbst zu werden“. Ohnehin liege doch – „egal ob im Osten oder Westen“ – „die eigentliche Wettbewerbsfähigkeit darin, sich immer wieder selbst zu übertreffen, und nicht darin, andere einzudämmen“.
China habe „die Voraussetzungen, die Fähigkeit und die Zuversicht“, seine „kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungsziele zu erreichen“, und dies werde „der Erholung der Weltwirtschaft starke Impulse verleihen und gleichzeitig allen Ländern umfassende Marktchancen bieten“. China gehe von einer „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ aus, deren „Aufbau“ es voranzutreiben gelte, und es werde „sein Wissen und seine Stärke für den Frieden und die Entwicklung in der Welt sowie für den Fortschritt der menschlichen Zivilisation einsetzen“.

Auf die „mehrschichtige Belastungsprobe“ eingehend, in der sich „unsere Welt“ im Angesicht von „Jahrhundertpandemie“, „geopolitischen Konflikten“ und „Klimawandel“ befinde, gab Wu Ken seiner Besorgnis Ausdruck, dass „einzelne Länder ein Wiederaufleben der Mentalität des Kalten Krieges [provozieren]“ würden. „Unilateralismus und Protektionismus“ stünden der „globalen Governance“ und der „wirtschaftlichen Globalisierung entgegen“; die „internationale Gemeinschaft“ sei wieder einmal vor die Entscheidung zwischen „Win-win-Kooperationen“ und „gemeinsamer Entwicklung“ auf der einen oder „abgekoppelten Lieferketten“ und „Konfrontation verschiedener Lager“ auf der anderen Seite gestellt.

Der andere Blick auf die „Zeitenwende“

Absichtsvoll sprach Wu Ken auch von einer „Zeitenwende“. Aber er meinte damit nicht die, die von der NATO seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 als Entstehung einer neuen Blockkonfrontation zwischen West und Ost beschworen wird, sondern „die Zeitenwende von der Blockkonfrontation während des Kalten Krieges hin zu Frieden, Entwicklung und Multipolarisierung des internationalen Systems“.

Dieser Unterschied ist für das Verständnis der chinesischen Weltsicht und ihres daraus abgeleiteten Handelns von größter Bedeutung.
China, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Niederschlagung des „Boxeraufstandes“ von den imperialistischen Mächten zum Fußabtreter der Weltgesellschaft gemacht worden war, dann in jahrzehntelangen revolutionären Kämpfen und einem mit diesen verwobenen Befreiungskrieg gegen die japanische Aggression mit der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 seine souveräne Staatlichkeit wiedererlangte und nach dem Beschreiten eines durch Erfolge, aber auch mörderische Katastrophen geprägten sozialistischen Entwicklungsweges ab 1978 einen Pfad der Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung einschlug, der die ganze Welt in Erstaunen versetzte, will die Dividende dieser Zeitenwende 1989/90 – also „Frieden, Entwicklung und Multipolarisierung des internationalen Systems“ – nicht einer neuerlichen Blockkonfrontation geopfert sehen.
Xi Jinping, an der Spitze der im Juli 1921 gegründeten KPCh stehend, die sich als Organisator, Motor und die Zukunft bestimmender Garant dieser chinesischen Entwicklung sieht, umriss im Parteitagsbericht am 16. Oktober 2022 die Anstrengungen, die seine Partei zur Bewahrung und Mehrung dieser Dividende unternommen hat:

Man habe „Chinas Diplomatie als die eines großen Landes mit eigener Prägung allseitig vorangetrieben“ und dabei „die internationale Fairness und Gerechtigkeit gewahrt“ wie auch „echten Multilateralismus praktiziert“. China stehe „gegen Hegemonismus und Machtpolitik jeglicher Art“ und wirke „jeder Form von Unilateralismus, Protektionismus und Tyrannei entgegen“. Es sei gelungen, ein „weltweites Partnerschaftsnetz zu knüpfen und die Herausbildung neuartiger internationaler Beziehungen zu fördern“.
China habe seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, als „verantwortungsbewusstes großes Land“ zu handeln, sich „aktiv an der Reform und Ausgestaltung des Global-Governance-Systems beteiligt“ und „im Kampf gegen die Corona-Pandemie auf umfassende internationale Zusammenarbeit gesetzt“. All dies habe China breite internationale Anerkennung eingebracht sowie seinen internationalen Einfluss und seine „Überzeugungs- und Mitgestaltungskraft merklich erhöht“.

„Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“

Im Kapitel 14 des Berichts, das unter der Überschrift „Förderung von Frieden und Entwicklung in der Welt und Schaffung einer Schicksals-Gemeinschaft der Menschheit“ steht, werden die Zielstellungen des außenpolitischen Handelns weiter aufgefächert. China, das „seit jeher am Prinzip der Wahrung des Weltfriedens und der Förderung gemeinsamer Entwicklung“ festhalte, wolle seine internationalen Beziehungen unverändert auf der „Grundlage der fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ entwickeln und dabei „die Interessenschnittmengen mit anderen Ländern ausweiten“.

Es ist nicht die Art chinesischer Parteitagsreden, sich der Kurzlebigkeit und Schlagzeilenhatz westlicher Berichterstattung zu unterwerfen. So ist es auch kein Wunder, dass konkrete Aussagen etwa zum Krieg in der Ukraine fehlen. Das jedoch sollte nicht zu der Annahme verleiten, die chinesische Führung habe dazu nichts zu sagen. China – das ist gewiss – hat kein Interesse an diesem Krieg. Es ist jedoch Atommacht und eines der fünf Ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates, und so fällt die im Bericht formulierte Absicht ins Auge, eine „koordinierte und gute Interaktion unter den Großmächten“ zu fördern und „für die Herausbildung eines Gefüges der Großmachtbeziehungen“ einzutreten, „das durch friedliche Koexistenz, allgemeine Stabilität und ausgewogene Entwicklung geprägt ist“.

Wohl wissend, dass solche Überlegungen bei den Nachbarländern Misstrauen hervorrufen könnten, heißt es in der Rede weiter, dass China im Umgang mit ihnen „an dem Konzept von Vertrautheit, Ehrlichkeit, gegenseitigem Nutzen und Inklusivität“ festhalten werde.
Die oft zitierte Global Governance betreffend, werde China – so heißt es weiter – „auch in Zukunft das internationale System mit der Organisation der Vereinten Nationen als Herzstück verteidigen, genauso wie die auf Völkerrecht basierende internationale Ordnung und die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen, deren Fundament die Ziele und Grundsätze der UNO-Charta bilden“.
China sei „gegen die Bildung von Lagern und exklusiven Gruppierungen, die sich speziell gegen einzelne Länder richten“. Das Land setze sich dafür ein, dass „multilaterale Mechanismen wie die Welthandelsorganisation und die APEC ihre Rolle noch besser entfalten können“ und „sich die Einfluss kraft von Kooperationsmechanismen wie den BRICS-Staaten oder der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) erweitert“. Auch wolle China „das Mitspracherecht der Schwellen- und Entwicklungsländer in den globalen Angelegenheiten weiter stärken“, sich „aktiv an der Ausarbeitung der globalen Sicherheitsregeln“ und „an den Friedensmissionen der UNO beteiligen“ sowie „eine konstruktive Rolle bei der Wahrung des Weltfriedens und der regionalen Stabilität“ spielen.

„Das große Banner des Sozialismus chinesischer Prägung“

Der Bericht insgesamt steht unter der Überschrift „Das große Banner des Sozialismus chinesischer Prägung hochhalten und vereint für den umfassenden Aufbau eines modernen sozialistischen Landes kämpfen“. Was für ein Stoff für gründliche Analyse und Auseinandersetzung, die in der hier gebotenen Kürze natürlich überhaupt nicht zu leisten ist!

Ein ganzes Kapitel ist dem Thema „Eröffnung neuer Perspektiven für die Sinisierung und den Zeitbezug des Marxismus“ gewidmet. Es geht um die chinesische Gesellschaft in ihrer ganzen Größe und Dimension.
Worum es ganz ausdrücklich nicht geht, ist, dass China mit seinem Weg für irgend jemand eine Vorbildrolle spielen oder auf der Grundlage dieser irgendeinen neuen Block schaffen wolle.

China will keine neuen Blöcke. „China“, so verkündet es der 20. Parteitag, „setzt auch weiterhin auf Dialog und Konsultation, um eine Welt mit dauerhaftem Frieden zu schaffen; auf gemeinsamen Aufbau und gemeinsame Teilhabe zur Schaffung einer Welt mit allgemeiner Sicherheit; auf Zusammenarbeit und gemeinsames Gewinnen für eine Welt mit gemeinsamer Prosperität; auf Austausch und gegenseitiges Lernen zur Schaffung einer offenen und inklusiven Welt; sowie auf grüne und kohlenstoffarme Entwicklung für eine saubere und schöne Welt.“

Es gelte – so heißt es weiter – „die Vielfalt der Zivilisationen der Welt zu respektieren, durch den Austausch der Zivilisationen kulturelle Barrieren zu überwinden, Kulturkonflikte durch gegenseitiges Lernen zu verhindern und durch ein harmonisches kulturelles Miteinander mit kultureller Überheblichkeit aufzuräumen und so den verschiedenartigen globalen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen“.

Wann wird der Westen bereit sein, auf diese Vorschläge adäquat – das heißt: seriös und aufgeschlossen – zu reagieren? Oder sind die Türen durch die vom Westen beschworene „neue Blockkonfrontation“ schon so weit zugeschlagen, dass alle Hoffnung vergeblich ist?

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"Für eine dauerhaft friedliche Welt", UZ vom 4. November 2022



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