Armutskongress: Sozialverbände und Gewerkschaften fordern „mutig eingreifende Steuer- und Finanzpolitik“

Für eine Agenda des Sozialen

Von Markus Bernhardt

Informationen:

www.armutskongress.de

Mehr als 500 Menschen haben in der vergangenen Woche im Langenbeck-Virchow-Haus in Berlin am sogenannten Armutskongress teilgenommen. Der Kongress, der maßgeblich vom Paritätischen Gesamtverband organisiert und von mehr als einem Dutzend weiterer Sozial-, Selbsthilfe- und Fachverbände sowie den Gewerkschaften unterstützt worden war, stand in diesem Jahr unter dem Motto „Umsteuern: Armut stoppen, Zukunft schaffen“.

Den Kongressveranstaltern war es gelungen, von Armut betroffene Menschen und Experten aus Wissenschaft, Praxis und Politik ins Gespräch zu bekommen. So schilderten prekär Beschäftigte und Erwerbslose ihren Alltag und berichteten eindrucksvoll über die damit einhergehende Ausgrenzung und Stigmatisierung, Probleme mit den zuständigen Jobcentern, Erfahrungen mit Zwangsverrentung und anhaltende finanzielle Schwierigkeiten.

Großen Raum nahm zugleich der „Aufruf für mehr soziale Gerechtigkeit“ ein, der im Rahmen der Tagung vom Vorsitzenden des Paritätischen Gesamtverbandes, Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach sowie Barbara Eschen, Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg und zugleich Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz, vorgestellt wurde.

Darin fordern die Organisationen eine „gerechte Steuerpolitik, gute Arbeit statt prekäre Beschäftigung und Sozialleistungen, die zum Leben reichen. Ziel des Paritätischen Gesamtverbandes, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Nationalen Armutskonferenz sei es, anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl aufzuzeigen, „auf welche Politik es ankommt, um Armut wirkungsvoll einzudämmen“. Unterstützt wird der Aufruf von 13 weiteren Sozial-, Wohlfahrts- und Fachverbänden sowie gewerkschaftlichen Organisationen.

„Um die Schere in der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung zu schließen und um eine weitere Spreizung der Gesellschaft zu verhindern, muss in der Steuerpolitik konsequent umgesteuert werden“, forderte Rosenbrock. Die dazu aktuell in der Diskussion stehenden Vorschläge der großen Parteien seien „vom Umfang und der Zielrichtung her viel zu ambitionslos“. „Wir brauchen eine wirklich mutig eingreifende Steuer- und Finanzpolitik, um den anstehenden gesellschaftlichen und sozialpolitischen Herausforderungen gerecht zu werden“, stellte er klar.

Annelie Buntenbach verwies hingegen auf den Zusammenhang von Armut und prekärer Beschäftigung: „Die Politik muss endlich umsteuern und der Spaltung am Arbeitsmarkt entgegentreten. Es geht darum, den Niedriglohnbereich auszutrocknen, Minijobs in abgesicherte Beschäftigung umzuwandeln und die sachgrundlose Befristung abzuschaffen“, forderte sie. Die Gewerkschafterin verwies zudem auf den Umstand, dass vor allem junge Beschäftigte immer öfter nur befristete Arbeitsverträge bekämen. Auch der Missbrauch von Werkverträgen und prekärer Solo-Selbststtändigkeit müsse gestoppt werden. „Die Menschen brauchen gute und sichere Arbeit, die anständig entlohnt wird und deren Arbeitsbedingungen stimmen. Wichtig dafür ist auch eine vollwertige Berufsausbildung – jedoch bieten die Arbeitgeber zu wenige Ausbildungsplätze an. Die Politik muss endlich eine gesetzliche Ausbildungsgarantie beschließen“, forderte sie.

Barbara Eschen warnte unterdessen vor den Auswirkungen von Armut auf das demokratische Gemeinwesen. „Die Regelsätze von Hartz IV sind zu niedrig. Maßstab bei der Berechnung scheint zu sein: Es muss Mangel da sein, damit sich die Menschen nicht einrichten.“ Trotzdem blieben fast die Hälfte der Menschen über vier Jahre im Leistungsbezug und hätten trotz aller Bemühungen keine Chance. „Prekär Beschäftigten soll anscheinend bewiesen werden: Es geht noch schlechter. Das ist ein Druckmittel. Dabei geht es uns um viel mehr: Um echte Teilhabe. Arme Menschen haben Ideen, Wünsche, Vorstellungen, sie tun alles Mögliche, um ihre Situation zu verändern.“ Das werde jedoch nicht anerkannt, warnte die Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz.

Bereits wenige Tage vor dem Armutskongress, der bereits zum zweiten Mal veranstaltet wurde, hatte der Paritätische Gesamtverband sein Jahresgutachten zur sozialen Lage in Deutschland vorgelegt. Darin kommt der Sozialverband zu dem Schluss, dass das „zentrale Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, wer sich anstrengt und sich bildet, kann auch sozial aufsteigen, trotz der anhaltend guten Wirtschaftsentwicklung in Deutschland immer weniger eingelöst“ werde. „Ungleichheit und die Blockade von Aufstiegschancen werden immer mehr zu einer Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, warnt der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes, Rosenbrock, in besagtem Gutachten. Die wachsende soziale Verwundbarkeit lasse sich nicht nur in einzelnen, vorübergehenden Lebensphasen beobachten, sondern bestehe heute über die gesamte Biografie und sogar generationenübergreifend. Der Ausgrenzungsprozess beginne schon in der Kindheit. „Die seit Jahren relativ stabile Zahl von etwa 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen, die an oder unter der Armutsgrenze leben, bestätigt nachdrücklich nicht nur das Versagen der bestehenden Sicherungssysteme, sondern auch das fehlende Interesse, daran etwas zu ändern“, so Rosenbrock. Armut und wachsende soziale Ungleichheit seien mit Chancengleichheit und sozialer Aufwärtsmobilität nicht vereinbar.

Der Paritätische Gesamtverband fordert daher in seinem Jahresgutachten eine „Agenda des Sozialen“, die unter anderem eine nachhaltige Bildungsoffensive, einen sozialen Arbeitsmarkt, der Langzeitarbeitslosen Chancen eröffnet, eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze in Hartz IV sowie eine durchgreifende Rentenreform enthalten müsse. Um derlei zu finanzieren, wirbt der Verband für „ein konsequentes Umsteuern in der Steuerpolitik“. So müssten etwa große Erbschaften und Vermögen deutlich stärker zur Finanzierung sozialer Investitionen herangezogen werden. „Mit ein bisschen höheren Spitzensteuersätzen, ein bisschen mehr Reichensteuer und vagen Andeutungen zur Erbschaftsteuer kann es nicht getan sein“, kritisiert der Paritätische Gesamtverband.

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"Für eine Agenda des Sozialen", UZ vom 7. Juli 2017



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