Sie wollen „Europa erneut zu dem Friedensprojekt machen, als das es einst konzipiert worden war“, wie es im beschlossenen EU-Wahlprogramm heißt. Die Rede ist von der neuen Partei für „Vernunft und Gerechtigkeit“. Die als „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) bekannte Neugründung kam am vergangenen Samstag in Berlin zu ihrem ersten Parteitag zusammen, um einen erweiterten Vorstand zu wählen, ein EU-Wahlprogramm zu verabschieden und eine 20-köpfige Kandidatenliste aufzustellen. Vorausgegangen war eine Videokonferenz, auf der die 450 neuen Mitglieder der Partei diskutieren konnten, ohne sich von circa 200 Journalisten, die in das Berliner „Kosmos“ zum Parteitag kamen, belauschen zu lassen. Die bisherige Berichterstattung über die Linkspartei-Abspaltung bot dafür gute Gründe.
In der medialen Berichterstattung spielt das Programm, mit dem BSW zur Wahl antritt, kaum eine Rolle. Dabei bietet dieses für den bürgerlichen Mainstream durchaus Angriffsflächen. So positioniert sich BSW gegenüber der EU kritisch und stellt in ihrem Wahlprogramm fest: „Die Integration Europas in Richtung eines supranationalen Einheitsstaats hat sich als Irrweg erwiesen, der Europa eher spaltet als eint.“ Die Partei tritt für ein „Europa souveräner Demokratien“ ein, welches sich jedoch wie die EU in ihrem Ist-Zustand durch einen „einheitlichen Binnenmarkt“ auszeichnet.
Dass der Zustand der EU darauf zurückgeht, dass sie ihrem Charakter nach ein militaristisches und imperialistisches Bündnis ist und dass die EU deswegen nicht reformierbar ist, das dürfte zumindest einem Teil der Spitzenkandidaten bewusst sein. Jahrelang haben Fabio De Masi (Platz 1) und Ruth Firmenich (Platz 4) für Wagenknecht im EU-Parlament gearbeitet und die EU von innen kennengelernt. Doch in ihrem Wahlprogramm wird das Problem EU nicht an den Kapitalfreiheiten im EU-Binnenmarkt festgemacht, sondern als Ergebnis falscher Politik interpretiert.
So wundert es nicht, dass im Wahlprogramm so getan wird, als stehe den demokratisch gewählten Vertretern auf nationaler Ebene eine EU-Bürokratie in Brüssel entgegen, die warum auch immer gegen die einfachen Menschen regiert. „Parlamente und Regierungen“ würden von den „dirigistischen Vorgaben aus Brüssel“ gegängelt, heißt es. Dass es jedoch gerade die wirtschaftsstarken Mächte sind, die innerhalb der EU ihre Interessen durchsetzen, wird durch diese Ausführungen verdunkelt. Ebenso, dass die Regierungen der Mitgliedsländer über den Rat Entscheidungen durchdrücken, für die sie „zu Hause“ das Parlament einbinden müssten.
Klar ist, dass es sicherlich Fälle gibt, in denen dirigistische Vorgaben aus Brüssel kommen – aber meist im Interesse des deutschen Imperialismus und seiner Bundesregierung. Erinnert sei hier an die Euro-Krisenlösungsstrategie. Der Vorschlag aus dem BSW-Wahlprogramm für die „Nichtumsetzung von EU-Vorgaben auf nationaler Ebene“, sofern sie „wirtschaftlicher Vernunft, sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie und Meinungsfreiheit zuwiderlaufen“, wird in Deutschland so schnell keine Rolle spielen.
Das BSW möchte außerdem „die unkontrollierte Migration in die EU stoppen“. Wie das geht, wird in wenigen Zeilen ausgeführt und unterscheidet sich erst einmal nicht von den Abschottungsplänen der Regierung oder ihrer Bundestagsopposition mitsamt der AfD: „Es darf nicht kriminellen Schlepperbanden überlassen werden, wer Zugang zur EU bekommt: Die Asyl- und Prüfverfahren zum Schutzstatus sollten daher an den EU-Außengrenzen oder in Drittländern erfolgen.“
Diese Positionierung kann als Erklärung herhalten, warum alle Umfrageinstitute große Hoffnungen in das neue BSW orakeln. Denn dieses könnte der AfD die Wähler abwerben. Die Stoßrichtung der EU-Kritik und die Forderungen nach einem Stopp der unkontrollierten Migration klingen jedenfalls ähnlich.