Gründung und Zerschlagung der UdSSR, Klassenkampf und Kampf um nationale Befreiung

Für die unterdrückten Klassen und Nationen

Zum Jahresende 1991, nach fast 70-jähriger Existenz, wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) aufgelöst, besser gesagt: zerschlagen – ein in höchstem Maße undemokratischer Vorgang. Am 17. März 1991 hatte ein Referendum stattgefunden, bei dem nicht mehr alle Sowjetbürger abstimmen durften. Die Regierungen von Armenien, Georgien, Moldawien, Lettland, Estland und Litauen verweigerten den Menschen die Teilnahme. Bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent stimmten 76 Prozent für den Erhalt der UdSSR. Die Zustimmung lag in allen beteiligten Republiken, auch in der Ukraine, bei über 70 Prozent.

Die Existenz der UdSSR und ihre Zerschlagung sind geschichtliche Ereignisse, die bis heute nachwirken. Ein Beispiel: Dieses Jahr wurde am Tag der Befreiung beziehungsweise Tag des Sieges – also am 8. und 9. Mai – ausgerechnet am Ehrenmal für die bei der Befreiung Berlins gefallenen Sowjetsoldaten das Zeigen der Fahnen der Sowjetunion und der Roten Armee verboten. Die DKP klagte dagegen. In der Klageerwiderung argumentierte die Polizei, der Vorsitzende der DKP teile mit, „dass der jetzige Versuch (das Zeigen dieser Fahnen zu verbieten – P. K.) geschichtslos, reaktionär und ein Skandal sei, denn würde es die Sowjetunion und die Rote Armee noch geben, gäbe es den Krieg in der Ukraine nicht. Diese Ansicht wird zwar nicht näher erläutert. Der Kontext offenbart jedoch, dass der Vorsitzende der DKP die narrative Erzählung der Russischen Föderation zur Legitimierung des Angriffskriegs teilt.“ Eine unwiderlegbare Aussage zur Existenz der UdSSR wird kurzerhand in die Nähe des Straftatbestands der Billigung eines Angriffskriegs gestellt. Diese Straftat ist seit Beginn der Existenz der BRD nie verfolgt worden, obwohl sich alle Bundesregierungen ihrer schuldig machten. Nun soll sie mit der jüngsten Verschärfung des Paragrafen 130 StGB gegen diejenigen genutzt werden, die sich positiv auf die Geschichte der UdSSR, ihre Symbole und Institutionen beziehen.

Friedensmacht

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Von Chaos zu Ordnung: Auch in der Kunst spielte die Gründung der UDSSR eine große Rolle, wie in diesen Grafiken des russischen Konstruktivisten Eliezer „El“ Lissitzky. (Foto: public domain)

Wladimir Putin nannte die Zerstörung der UdSSR die „größte geopolitische Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts“. Ich stimme dieser Aussage zu, auch im Hinblick auf die beiden Weltkriege und die Herrschaft des Faschismus über große Teile Europas. Warum? Weil die Zerschlagung der UdSSR gleichbedeutend war mit der Zerschlagung jener Kraft, ohne die der Sieg über den Faschismus (und den japanischen Militarismus) nicht möglich gewesen wäre. Dieser Sieg war die Grundlage für die Herausbildung einer sozialistischen Weltgemeinschaft, die in der Lage war, den Imperialismus in Schach zu halten und ihn teilweise zum Verzicht auf militärische Aggression zu zwingen. Die zehntausende Toten, die der Imperialismus nach den Kriegen in Vietnam oder Korea sowie den Bürgerkriegen oder Putschen etwa im Iran, in Chile oder in Griechenland und dem Kongo auf dem Gewissen hat, mögen mir diese Vergröberung verzeihen – sie dient nur der Abgrenzung zur neuen Qualität der Aggression nach der Zerschlagung der UdSSR und des Sozialismus in Europa.

Die Oktoberrevolution 1917 beendete das Völkerschlachten des Ersten Weltkriegs. Das „Dekret über den Frieden“ war Ausdruck des Wunsches der Werktätigen, in Frieden zu leben. Auch für das Zusammenleben unterschiedlicher Völker in einem Land brachte die Oktoberrevolution den entscheidenden Fortschritt. Zuvor gab es Debatten in der kommunistischen Bewegung, etwa zwischen Lenin und Rosa Luxemburg, die befürchtete, dass Lenins Überlegungen zur Bildung einer Föderation (mit dem Recht auf Austritt) zu weit gingen und Nationalismus zuließen. Auch Namen wie Stalin, Feliks Dzierzynski und Grigori Ordschonikidse müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden, Wichtiges findet sich in Lenins Schriften „Zur Frage der Nationalitäten“ oder der „Autonomisierung“.
Die Diskussion fand unter schwierigsten Bedingungen statt. Die Frage, wie die Beziehungen zwischen den Republiken der Sowjetföderation zu gestalten seien, musste inmitten des schärfsten Klassenkampfs im Inneren wie gegen äußere Feinde beantwortet werden. Erst mit der Einnahme Wladiwostoks im Jahr 1922 wurden die Intervention ausländischer Mächte und die Bürgerkriegsaktivitäten konterrevolutionärer Kräfte im Wesentlichen beendet. Dieser konterrevolutionäre Klassenkampf bediente sich immer und überall des vorhandenen Nationalismus, versuchte an historisch nachvollziehbarer Angst vor großrussischem Chauvinismus anzuknüpfen. In solch einer Phase das Verhältnis von Autonomie und Zentralismus in der Sowjetföderation zu bestimmen – das konnte gar nicht ohne Meinungsverschiedenheiten vonstattengehen.

Die nationale Frage

Im Jahr 1920 formulierte Lenin grundsätzliche Gedanken für den Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (Komintern), die unter dem Titel „Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage“ veröffentlicht wurden. Der Titel allein macht deutlich, in welch großen, übergeordneten Zusammenhang Lenin seine Überlegungen zur konkreten Zusammenarbeit von Ländern stellte. Es ging um nicht weniger als darum, eine Form zu finden, wie Nationen, Staaten und Völker ohne kapitalistische Verwertungszwänge und imperialistische Unterdrückung zusammenleben können. Lenin schrieb, man müsse ausgehen von einer „klaren Unterscheidung zwischen unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten und unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten Nationen“ im Gegensatz „zu dem bürgerlich-demokratischen Lug und Trug“ der Vertuschung der Ausbeutung. Es gehe um die „Herauslösung der Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlechthin“ und um eine „genaue Einschätzung der konkreten historischen und vor allem der ökonomischen Situation“.

Weiter heißt es: „Die Aufgabe der Komintern besteht diesbezüglich sowohl in der Weiterentwicklung als auch im Studium und in der praktischen Überprüfung dieser neuen, auf der Basis der Sowjetordnung und der Sowjetbewegung entstehenden Föderationen. Wenn man die Föderation als Übergangsform zur völligen Einheit anerkennt, muss man ein immer engeres föderatives Bündnis anstreben und dabei berücksichtigen: erstens, dass es ohne ein ganz enges Bündnis der Sowjetrepubliken unmöglich ist, deren Existenz zu behaupten, denn sie sind von den militärisch unvergleichlich stärkeren imperialistischen Mächten der ganzen Welt umgeben; zweitens, dass ein enges wirtschaftliches Bündnis der Sowjetrepubliken notwendig ist, weil anders die Wiederherstellung der durch den Imperialismus zerstörten Produktivkräfte und die Sicherung des Wohlstands der Werktätigen nicht durchführbar ist; drittens, dass die Tendenz zur Schaffung einer einheitlichen, nach einem gemeinsamen Plan vom Proletariat aller Nationen zu regelnden Weltwirtschaft als Ganzes, eine Tendenz, die bereits unter dem Kapitalismus ganz deutlich zutage getreten ist, unter dem Sozialismus unbedingt weiterentwickelt und ihrer Vollendung entgegengeführt werden muss.“

Es ging also darum, ein Bündnis zu schaffen, um sich erstens militärisch gegen den „unvergleichlich stärkeren“ Imperialismus verteidigen zu können, zweitens um die Wiederherstellung der Produktivkräfte und die Sicherung des Wohlstands der Werktätigen und drittens um die Schaffung einer einheitlichen „vom Proletariat aller Nationen zu regelnden Weltwirtschaft“. Dafür sollte die Föderation als Übergangsform zur völligen Einheit anerkannt werden.

Kampf um nationale Befreiung

Dazu müssen „die kommunistischen Parteien (…) nicht nur in ihrer gesamten Propaganda und Agitation – sowohl von der Parlamentstribüne herab als auch außerhalb des Parlaments – die Verletzungen der Gleichberechtigung der Nationen und der Garantien der Rechte der nationalen Minderheiten, die in allen kapitalistischen Staaten trotz ihrer ‚demokratischen‘ Verfassungen dauernd Platz greifen, unentwegt anprangern. Notwendig ist auch erstens eine ständige Aufklärung darüber, dass nur die Sowjetordnung imstande ist, den Nationen wirkliche Gleichberechtigung zu geben, indem sie zunächst die Proletarier und dann die gesamte Masse der Werktätigen im Kampf gegen die Bourgeoisie zusammenfasst; zweitens müssen alle kommunistischen Parteien die revolutionären Bewegungen in den abhängigen oder nicht gleichberechtigten Nationen (zum Beispiel in Irland, unter den Negern Amerikas und so weiter) und in den Kolonien direkt unterstützen.

Ohne diese letzte, besonders wichtige Voraussetzung bleibt der Kampf gegen die Unterdrückung der abhängigen Nationen und der Kolonien sowie die Anerkennung ihres Rechts auf staatliche Lostrennung ein verlogenes Aushängeschild, wie wir das bei den Parteien der II. Internationale sehen.“

Lenin orientierte die Komintern darauf, die vielfältig differenzierten Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse, die der Imperialismus hervorbringt, zu studieren und als Basis für das neue Modell der Zusammenarbeit zu berücksichtigen. Die Untersuchung der verschiedensten Ausprägungen der kolonialen beziehungsweise nationalen Unterdrückung führten zu einer Weiterentwicklung der Strategie und Taktik: Bürgerlich-demokratische Befreiungsbewegungen mussten durch die kommunistischen Parteien unterstützt werden, Bündnisse mit den bürgerlichen Regierungen der Kolonien und den unterdrückten Ländern wurden möglich und nötig.

Nationale Egoismen und Spaltung

Hinsichtlich der Föderation (also der Überlegungen für die spätere Sowjetunion) war Lenin sich klar, dass die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte gegenseitiger Ausbeutung, Unterdrückung und Abhängigkeit „zu Vorurteilen des nationalen Egoismus und der nationalen Beschränktheit“ führen und diesen „unvermeidlich zu besonderer Kraft und Dauerhaftigkeit verhelfen“.

Nationaler Egoismus und nationale Beschränktheit sollten sich als dauerhafter erweisen, als es vermutlich selbst Lenin erwartete. Das zeigte sich während der Konterrevolution in den europäischen sozialistischen Ländern Ende der 1980er Jahre. In der UdSSR, der CˇSSR oder in Jugoslawien wurden Nationalitäten und Volksgruppen aufgehetzt, um die Werktätigen zu spalten. Selbst im Falle der DDR wurde die nationale Frage instrumentalisiert – dort zwar nicht zum Zweck der Spaltung, aber zur Annexion durch den Imperialismus. In allen Fällen handelte es sich um eine Kombination aus sozialer und nationaler Frage. Probleme in der Produktivkraftentwicklung insgesamt, Probleme der Verteilung oder sozialer Ungleichgewichte führten die Ideologen des Kapitalismus zurück auf ein Problem zwischen den Nationen. So gelang es, den Marxismus-Leninismus zu diskreditieren und mit dem Schüren von Nationalismus Kräfte zu seiner Zerschlagung zu formieren. Für die Werktätigen bedeutet dies in ihrer Mehrzahl sozialen Abstieg, Armut, Elend, bis hin zu Krieg.

Umgekehrt hatte die UdSSR während ihrer 70-jährigen Existenz gezeigt, dass das von Lenin und den Bolschewiki in langen Debatten und Auseinandersetzungen konzipierte Modell der föderativen Zusammenarbeit tatsächlich in der Lage war, mit der dialektischen Aufhebung der Problematik der nationalen Frage im sozialistischen Aufbau zu beginnen.

Nationale Frage heute

Auf der anderen Seite wissen wir heute, dass die Geschichte der UdSSR eines der wenigen Beispiele der Menschheitsgeschichte ist (ein anderes ist heute die VR China), wo es über Jahrzehnte gelang, ein Zusammenleben von unterschiedlichen Völkern und Ethnien zum friedlichen Menschheitsfortschritt zu organisieren. Putins Kritik an Lenins Nationalitätenpolitik, die er im Februar im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine äußerte, ist nicht nur historisch falsch.

Aus meiner Sicht bleibt die Verteidigung der Bedeutung und Rolle der UdSSR eine unverzichtbare Grundlage für die Identität der kommunistischen Bewegung. Die Verteidigung als Friedensmacht, als Avantgarde auf dem Weg zum Sozialismus, aber eben auch als Beispiel einer vom kolonialen und imperialistischen Joch befreiten Zusammenarbeit der Völker.

Für heute steht in der Tradition der Leninschen Herangehensweise an die Vorbereitung der Gründung der UdSSR eine weitere Aufgabe:

Eine erfolgreiche antiimperialistische Strategie wird sich nicht erarbeiten lassen ohne eine historisch konkrete Analyse der politischen, ökonomischen und militärischen Abhängigkeits-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse. Ihre vielfache Differenziertheit dabei außen vor zu lassen führt zu Fehleinschätzungen. Die Feststellung, dass eine multipolare Weltordnung an sich noch kein Eintritt in eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte darstellt, ist nur bedingt richtig. Es wäre aber fahrlässig zu übersehen, welche Spielräume sich durch die mögliche Ablösung der Hegemonie des durch die NATO-Staaten verkörperten Imperialismus für die Kämpfe gegen Neokolonialismus oder für die Rechte und Interessen der verschiedenen nationalen Abteilungen der Arbeiterklasse ergeben.

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"Für die unterdrückten Klassen und Nationen", UZ vom 23. Dezember 2022



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