Für die Gleichberechtigung von Frauen braucht es den gemeinsamen Streik

Für Brot und Rosen

Gelsenkirchen ist seit Jahren die ärmste Stadt Deutschlands. Fast jedes zweite Kind wird in einer Familie groß, die auf Hartz IV angewiesen ist. Im Durchschnitt verdienen die Menschen hier 17.000 Euro im Jahr, über 6.000 Euro weniger als der Bundesdurchschnitt. Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen ist Karin Welge, SPD. Sie ist derzeit die Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und verhandelt mit der Gewerkschaft ver.di den neuen Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst.

In der zweiten Verhandlungsrunde hatte die VKA ein Angebot unterbreitet. Laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sei es „sehr gut und sehr fair“ und „Ausdruck des Respekts vor dem, was die 2,5 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen tagtäglich für uns alle in Deutschland leisten“. Die Beschäftigten scheinen das anders zu sehen: Sie reagierten mit der Ankündigung, die Warnstreiks auszuweiten. Welge ist empört. Durch das Angebot verböten sich Streiks „und damit verbundene zusätzliche Belastungen unserer Bürgerinnen und Bürger“.
Frau Welge hat offensichtlich sehr wenig mit den Menschen in ihrer Stadt zu tun. Ansonsten wüsste sie, dass die Beschäftigen das Geld, das sie fordern, angesichts der Inflation dringend brauchen. Sie wüsste, dass der Personalmangel Folge der schlechten Bezahlung und der miserablen Arbeitsbedingungen ist. Und sie wüsste natürlich auch, dass ein Streik inzwischen kaum noch zu Belastungen der Bürgerinnen und Bürger führt: Behörden haben wegen Personalmangels extreme Wartezeiten oder sind gleich wochenlang geschlossen. Die Notbesetzung in Kitas, Pflegeheimen und Krankenhäusern ist häufig nicht geringer als im Alltag. Überall gilt: nicht der Streik ist das Problem, sondern der Normalzustand! Frau Welge wüsste, dass in vielen Fällen Frauen von den Ungerechtigkeiten dieses Systems ganz besonders betroffen sind.

Frauen verdienen immer noch weniger als Männer

Im Durchschnitt, also im Vergleich aller berufstätigen Männer mit allen berufstätigen Frauen hierzulande verdienen Letztere 18 Prozent weniger. In Gelsenkirchen heißt das, dass Frauen mit 14.000 Euro im Jahr auskommen müssen. Dass sie von nur gut 1.100 Euro im Monat Miete, Energie, Lebensmittel bezahlen müssen. Das sind lange Monate.

Gerade im öffentlichen Dienst, dem Gesundheitswesen, dem Bildungs- und Erziehungsbereich sowie in der Pflege werden niedrigere Gehälter gezahlt als im produzierenden Gewerbe. Die Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen sind oftmals so prekär, dass es die Kolleginnen dort nur in einer Teilzeitanstellung aushalten. Hinzu kommt: Selbst im direkten Vergleich innerhalb einer Berufsgruppe erhalten Frauen bei gleicher Qualifikation im Schnitt 7 Prozent weniger.

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1985 demonstrierten Frauen für ihre Rechte auch am sogenannten Muttertag. (Foto: UZ-Archiv)

Noch immer gibt es Chefs, die argumentieren, es sei ihr unternehmerisches Recht, einer Frau, die schlechter verhandelt habe als ihr männlicher Kollege, für die gleiche Arbeit weniger zu bezahlen. Dem setzte das Bundesarbeitsgericht in Erfurt jetzt einen Riegel vor. Eine Kollegin hatte geklagt – das Gericht wies die ungleiche Bezahlung als Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zurück. Auch wenn viele andere beschäftigtenfeindliche Urteile der Arbeitsgerichte zeigen, dass auf die deutsche Rechtsprechung keineswegs Verlass ist, stärkt dieses Urteil allen Frauen, die für inner- wie außerbetriebliche Gleichbehandlung kämpfen, den Rücken.

Systematische Doppelbelastung

Neben der ungleichen Bezahlung sind Frauen auch noch von struktureller Ungleichbehandlung und Doppelbelastung betroffen. Die Herrschenden dieses Systems profitieren doppelt von Frauen. Als Teil der lohnabhängigen Klasse gehen sie Beschäftigungsverhältnisse ein und verkaufen ihre Arbeitskraft unter oftmals erschwerten Bedingungen: Jede dritte Frau arbeitet atypisch, also in prekärer Beschäftigung oder Teilzeit.

Die strukturelle Ungleichbehandlung zeigt sich vor allem darin, dass der größte Anteil unvergüteter Arbeit im Bereich von Pflege und Erziehung im häuslichen und familiären Bereich von Frauen geleistet wird. Frauen sind die unbezahlten, privaten 24-Stunden-Krankenschwestern, Altenpflegerinnen, Erzieherinnen, Köchinnen und Reinigungsfachkräfte dieser Republik.

In diese Arbeit werden Frauen häufig gedrängt, da sie ohnehin schon schlechter bezahlt werden. Wenn eine Familie entscheiden muss, welcher Partner sich zu Hause kümmert und dafür seine Lohnarbeit reduziert, wird es diejenige sein, die weniger verdient. Wer vor und nach Feierabend so viel zu Hause schuften muss, hat auch weniger Kraft, im Betrieb für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Ein Teufelskreis, der verstärkt wird durch tief sitzende ideologische Rechtfertigungspropaganda für die Unterdrückung der Frau.

Folgen der Privatisierung

Längst überwunden geglaubte konservative Rollenbilder wurden in den letzten Jahren wiederbelebt. Selbst scheinbar aufgeklärte Menschen verbreiten, dass es gut sei, wenn Frauen die Hauptlast der familiären Fürsorge trügen. In diesen Kreisen ist es dann verpönt, als Frau berufstätig zu sein und sich entsprechend weniger um die Kinder zu kümmern.

Allerdings kommt die Gesellschaft an der schlichten ökonomischen Notwendigkeit nicht mehr vorbei, dass auch Frauen berufstätig sein müssen. Deshalb wird dieses erkämpfte Recht der Frauen in der Regel nicht in Frage gestellt. Die Strukturen der Ungleichbehandlung werden nur scheinbar aufgeweicht. Solange sich Regelungen wie das Elterngeld am Einkommen der Elternteile orientieren, gibt es keine echte Wahlfreiheit.

Mit jeder nichtbesetzten Stelle im Kindergarten, jeder überlaufenden Notaufnahme, jedem der Privatwirtschaft und ihrer Profitgeilheit überlassenen Pflegeheim überlegen es sich Familien zweimal, ob sie es verantworten können, ihre Lieben diesem System anzuvertrauen. Damit lasten die Folgen kaputtgesparter öffentlicher Daseinsvorsorge und privatisierter Dienstleistungen vor allem auf Frauen. Denn reale Alternativen zur privaten häuslichen Versorgung gibt es nicht bei seitenlangen Wartelisten für teure Pflegeheimplätze. Wer kümmert sich, wenn die Kita regelmäßig wegen hohen Krankenstands geschlossen bleibt?

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Demonstration für Arbeit und Frieden 1984: Helga Rosenberg, Ellen Weber, Irmchen Bobrzik und Marianne Konze (Foto: UZ-Archiv)

Für Familien stellt sich allzu oft die Frage: Finden wir in dieser Gesellschaft noch die nötigen Versorgungsmöglichkeiten für unsere betreuungspflichtigen Kinder, für pflegebedürftige Eltern? Wenn nicht: Wer bleibt zu Hause, um diese Arbeit statt oder zusätzlich zum eigenen Job zu übernehmen?

Gesellschaftliche Antwort nötig

An diesen beiden Punkten gilt es deshalb, im Kampf für Gleichstellung und Gleichbehandlung der Geschlechter anzusetzen. Sowohl die konkreten Arbeitsbedingungen von Frauen müssen verbessert als auch ihre Belastung im familiären Bereich reduziert werden. Im Kapitalismus profitieren die Herrschenden sowohl von der Ausbeutung der Beschäftigten als auch von dem Umstand, dass viele Bereiche, die eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe wären, einerseits der Profitlogik unterworfen sind und andererseits hauptsächlich von Frauen unentgeltlich geleistet werden.

Um Frauen wirklich gleichzustellen, braucht es mehr als Sonntagsreden, Sprachregelungen oder Quoten für Vorstandsposten. Neben der Aufwertung des Öffentlichen Dienstes durch bessere Löhne und Arbeitsbedingungen muss es um den Bereich der Reproduktion gehen. Sorge für Kinder, Kranke und ältere Menschen muss als gesellschaftliche Aufgabe organisiert werden und darf nicht als Privatproblem der Familien und damit letztlich auf Frauen abgewälzt werden. In der DDR wurde in dieser Richtung etliches erreicht.

Frauen im Streik bedeutet Kolleginnen, die sich überlegen müssen, ob der Streikposten morgens um fünf vor dem Klinikum bei minus zwei Grad für das eigene Kind zumutbar ist, weil die Kolleginnen der städtischen Kita an diesem Tag ebenfalls streiken. Gerade deswegen ist eine hohe Streikbeteiligung nicht nur zur Durchsetzung der Tarifforderungen, sondern auch im Kampf um grundlegende Verbesserungen entscheidend. Nur durch das Eintreten für die eigenen Interessen wird sich die Situation verbessern.

Das verbindet die Kolleginnen und Kollegen. Denn auch am Internationalen Frauentag haben werktätige Frauen weniger mit einer Oberbürgermeisterin Welge oder einer Außenministerin Annalena Baerbock gemeinsam als mit ihren männlichen Kollegen. Im gemeinsamen Streik kann das Bewusstsein der Kollegen gesteigert werden, dass auch sie der Benachteiligung von Frauen entgegentreten müssen. Haben die werktätigen Frauen und Männer das erkannt – wie sollten sie aufzuhalten sein?

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"Für Brot und Rosen", UZ vom 3. März 2023



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