Neuauflage von KPD-Broschüre zum BVG-Streik von 1932 mit aktuellen Schlussfolgerungen

Fünf Tage für „Arbeit, Brot und Freiheit“

Am 3. November 1932 begannen die Berliner Verkehrsarbeiter einen Streik, der fünf Tage andauern sollte. Der BVG-Streik war ein Höhepunkt des Abwehrkampfes gegen den per Notverordnung durchgesetzten Lohnabbau und die Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeiterklasse. Er wurde gegen den Willen der sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionäre vorangetrieben und wendete sich konkret gegen Lohnkürzungen bei der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG). Der Streik wurde am 7. November abgebrochen, nachdem es zu heftigen Repressionen und Zersetzungsversuchen gekommen war. Während der Auseinandersetzungen wurden drei Demonstranten von der Polizei erschossen. Die KPD, die sich frühzeitig mit den Verkehrsarbeitern solidarisierte und gemeinsam mit der „Revolutionären Gewerkschafts-Opposition“ (RGO) an den Streiks beteiligte, analysierte das Geschehen anschließend in der Broschüre „Der Streik der Berliner Verkehrs-Arbeiter“.

Pünktlich zum 90. Jahrestag des BVG-Streiks wurde das Heft nun von der „Gedenkstätte Ernst Thälmann“ in Hamburg und dem „Freundeskreis Ernst Thälmann e.  V., Ziegenhals – Berlin“ neu aufgelegt. Die Broschüre erzählt nicht nur den Streikverlauf nach, sondern entlarvt auch den bis heute propagierten Querfront-Mythos eines angeblichen Zusammenwirkens von KPD und NSDAP. Die zentralen Fragen des Heftes zum Umgang mit rechten Demagogen und einer allzu sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsbürokratie und zu den Möglichkeiten von Arbeitskämpfen in Krisenzeiten sind immer noch oder gerade wieder aktuell. Wir dokumentieren an dieser Stelle das Kapitel über das Ende des Streiks.

Hören wir die Zeugenaussage eines bürgerlichen Organs, das keineswegs einer besonderen Freundschaft zu den Streikenden verdächtig ist, wie die Berliner werktätige Bevölkerung den BVG-Streik aufgenommen hat. Der „Deutsche Volkswirt“, eines der intelligenteren Organe des deutschen Finanzkapitals, schreibt in seiner Nummer vom 11. November:

„Daran ist kein Zweifel mehr: Die Streikbewegung war trotz der Unbequemlichkeit, die sie für die Masse der Bevölkerung mit sich brachte, und trotz der zahlreichen Sabotageakte, die auch das große Polizeiaufgebot nicht verhindern konnte, von der Sympathie breitester Schichten getragen. Hier wirkten sich Dinge aus, die logisch mit dem Streik in keinen Zusammenhang zu bringen waren; der Unterstützungsabbau, die Regierungsparole gegen den Wohlfahrtsstaat, der 20. Juli. Zahllose unbeteiligte Arbeiter und Angestellte empfanden eine tiefe Befriedigung darüber, dass … der Arbeiterschaft eine so scharfe Waffe geblieben war.“

Ja, die Logik der Bourgeoisie kann den Zusammenhang zwischen dem Unterstützungsabbau und der begeisterten Aufnahme des BVG-Streiks von der Berliner Arbeiterschaft nicht begreifen. Dafür aber begriff diesen Zusammenhang sehr gut jeder Berliner Arbeiter. Schon am ersten Tage demonstrierten die Erwerbslosen in Riesenversammlungen und auf den Stempelstellen für den Streik der BVGer. In den meisten Berliner Arbeitervierteln fanden trotz des Verbots Demonstrationen mit über 1.000 Teilnehmern statt. In allen Betrieben diskutierten die Arbeiter über das große Beispiel. Ein Gefühl der Kraft bemächtigte sich der Lohnsklaven am Schraubstock und an der Hobelbank. Sie sind es, die ihre Hand an der Gurgel des Staates und der Wirtschaft hatten. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will …“

Tag für Tag erschienen in den Berliner Straßen zehntausende Erwerbslose und zeigten ihre Solidarität mit den uniformierten BVG-Kollegen. Jahrelang hämmerten die Reformisten ein: man kann in der Krise nicht streiken, die Millionen Erwerbslosen werden den Streikenden in den Rücken fallen. Die Berliner Erwerbslosen sind in den Streiktagen gekommen, nicht, um Streikbruch zu üben, sondern um ihre Kraft und ihr Leben für die Sache der BVG-Arbeiter, die die Sache der ganzen deutschen Arbeiterklasse geworden ist, einzusetzen.
Sollte einmal ein gut bezahlter Gewerkschaftsangestellter in einer Versammlung auftreten und von der Gefahr des Streikbruchs seitens der Erwerbslosen sprechen, werden ihm die Worte in der Kehle stecken bleiben. Haben die hungernden und darbenden Berliner Erwerbslosen – viele von ihnen sind 3 und 4 Jahre erwerbslos, viele von ihnen haben wochenlang, monatelang kein warmes Essen zu sich genommen, viele von ihnen frieren mit Kindern und Frauen in den tausenden Berliner Lauben – die Gelegenheit benutzt, eine Stellung bei der BVG zu erlangen? Nein, sie haben das nicht getan, sie haben vielmehr ihr Letztes für den Erfolg des Streiks eingesetzt. Nicht die hungernden Erwerbslosen, die satten Gewerkschaftsbürokraten waren es, aus Angst, ihre gute Stellung zu verlieren, die den finstersten Streikbruch organisierten. Sie waren es, die die auflodernde Flamme des proletarischen Widerstandes mit Füßen traten. Deutsche Arbeiter in allen Parteien und Organisationen, den Streikbruch der Gewerkschaftsbürokratie in den fünf heldenhaften Tagen des BVG-Streiks dürft ihr niemals vergessen!

Welchen Eindruck der Berliner Verkehrsstreik im ganzen Reich gemacht hat, zeigt ein Telegramm an Herrn von Papen aus Barmen-Elberfeld:

„An die derzeitige Reichsregierung
z. H. des Reichskanzlers von Papen.
Belegschaft der Wuppertaler Bergischen Kleinbahn (Schwebe- und Talbahn) begrüßt den Streik der Berliner Verkehrsarbeiter. Wir sind empört über reaktionäre Terror-Maßnahmen gegen streikende Berliner Verkehrsarbeiter. Um zwei Pfennige wurden bereits drei streikende Kollegen erschossen, zahlreiche schwer verwundet. Bisher 1,2 Millionen Mark Schaden durch Streik, womit mehr als ein Jahr der alte Lohn weiter gezahlt werden konnte.

Wuppertaler Straßenbahner fordern alternativ Zurücknahme aller Maßnahmen gegen streikende Kollegen, andernfalls schließen wir uns Berliner Verkehrsarbeiter-Streik an, schalten Strom aus, legen Maschinen still, werden Streikfront im Westen verbreitern und damit beweisen, dass Streikwaffe der Arbeiter stärker ist, als Ihre Diktatur.“

Groß waren die Sympathien der Arbeiter. Aber der Klassenfeind begriff sehr schnell, was für ein Einsatz auf dem Spiel steht. Der Klassenfeind mobilisiert alle seine Machtmittel, er schleudert auf die Waagschale seine gewaltigen Reserven. Schon am Freitag wurde klar: Dieser Streik kann nur gewonnen werden, wenn die Berliner Betriebsarbeiter auf den Plan treten.

Die Nachrichten aus den Betrieben waren: Die Müllabfuhr mit ihren 1.500 Arbeitern beschloss mit 90-prozentiger Mehrheit den Solidaritätsstreik – den ersten in Deutschland seit vielen Jahren. 500 Kass-Proleten beginnen den Kampf für ihre eigenen Forderungen, ebenso die Kohlearbeiter von Montania-Charlottenburg. Bei der Gas-Betriebsgesellschaft, die mit dreiviertel Mehrheit den Streik für Sonnabend früh beschloss, zieht die Direktion in den Nachtstunden rasch den Lohnabbau zurück. In den Gasbetrieben und anderen kommunalen Unternehmungen haben Massenverhaftungen von Funktionären die Stoßkraft der Belegschaft gelähmt. Die großen Berliner Metallbetriebe haben in diesen Tagen versagt.

Mit aller Kraft organisiert die Gewerkschaftsbürokratie den Streikbruch. Sonnabend noch nehmen sie an vielen Punkten ihre Mitglieder zusammen und verpflichten sie, am Montag früh unter Polizeischutz in die Betriebe zu gehen. Die Polizei besetzt Streiklokale, schließt die Streikküchen. Die Polizei kämmt Montag früh die Straßen frei – die Streikbrechergruppen marschieren ein.
Von innen zersetzen die Nazis die Streikfront. Abgesandte der Nazi-Gauleitung verbreiten die tollsten Gerüchte. Sie berichten in Streikversammlungen, dass an vielen Dienststellen gearbeitet wird, dass die RGO angeblich zum Streikbruch aufruft und dergleichen mehr.

Mit allen diesen Manövern haben Gewerkschaftsbürokratie und Naziführung im Laufe des Montag ein Abbröckeln der Streikfront erreicht. Nach dem Bericht der BVG-Direktion waren an diesem Tage 8.446 Arbeiter im Betrieb, 13.500 also noch im Streik.
Abends versammelte sich die zentrale Streikleitung zu ihrer letzten Sitzung. Dort wird beschlossen:

„Die letzte Sitzung der zentralen Streikleitung spricht der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition, der KPD, sowie der kühnen Haltung der ‚Roten Fahne‘ (die zu ihrem Verbot und zu ihrer Beschlagnahme führte) die vollste Anerkennung für die tatkräftige und aktive Unterstützung des Kampfes aus.

Sie fordert alle Kollegen zum Masseneintritt in die RGO auf, um innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften die neuen Vorbereitungen zu treffen für den siegreichen Kampf um Arbeit, Brot und Freiheit.
Die zentrale Streikleitung sendet im Auftrage der Berliner Verkehrsarbeiter den Gewerkschaften der Sowjetunion heiße Kampfesgrüße zum 15. Jahrestag der Oktoberrevolution.
„Wir haben unseren Kampf, der fünf Tage den Verkehr in Berlin stilllegte, der durch keinen Terror der Staatsmacht in seiner Kampfstellung geschwächt werden konnte, abbrechen müssen auf Grund des organisierten Streikbruchs der Gewerkschaftsbürokratie.

Wir gehen in die Betriebe mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen, mit dem Gelöbnis der entschlossenen Fortsetzung des Kampfes um Arbeit, Freiheit und Brot, für eine Arbeiter- und Bauern-Regierung.

Zentrale Streikleitung.“

Am Dienstag früh meldet sich, gemäß der Parole der Streikleitung, die gesamte Belegschaft auf den Dienststellen. Die Direktion sucht sich nun für die Streikverluste schadlos zu halten – 3.000 Kollegen werden entlassen, ohne Rücksicht auf die Dienstjahre, ja, größtenteils sogar ohne Rücksicht auf ihre Teilnahme am Streik. So wird der Bahnhof 15 total stillgelegt, ebenso die Werkstatt Nord-Süd. Das Profitinteresse der Rationalisierung entscheidet.

In vielen Versammlungen nehmen die entlassenen Kollegen zur Lage Stellung, sie fühlen sich nicht geschlagen; sie wissen, Opfer des proletarischen Kampfes waren niemals umsonst.

Ein Beispiel aus der Vorkriegszeit: Die drei größten Streiks der Vorkriegszeit, die Streiks der deutschen Bergarbeiter 1889, 1905 und 1912, endeten mit einer Niederlage. Damals war es die Bürokratie des christlichen Bergarbeiter-Verbandes, die den Streikbruch organisierte. Aber durch diese „Niederlagen“ ist der Deutsche Bergarbeiter-Verband zu einer mächtigen Organisation geworden. Die Bergarbeiter haben in den Vorkriegsjahren dank dieser Streiks – das muss sogar ein scharfmacherischer Professor, Adolf Weber, im seinem Buch „Kampf zwischen Arbeit und Kapital“ zugeben – sich einigermaßen erträgliche Löhne erkämpfen können: dank dieser Streiks wurden vom Vorkriegs-Reichstag verschiedene Arbeiterschutz-Gesetze für die Bergarbeiter erlassen.

Ein Proteststurm gegen die Entlassungen bei der BVG ging durch Berlin. Tausende von Mark werden aus allen Schichten der werktätigen Bevölkerung zur Unterstützung der Gemaßregelten gesammelt. Die Küchen des Solidaritäts-Ausschusses der BVG-Arbeiter schützen die Kollegen vor dem Hunger, das aktive Eintreten der Erwerbslosen vor Exmittierung. Selbst die bürgerliche Presse sieht sich gezwungen, die Direktion vor den Massenentlassungen zu warnen.

Nur eine Zeitung, der „Vorwärts“, wagt es, einen „Brief eines Freigewerkschafters“ zu bringen, in dem es heißt:

„Ich bin dafür, dass unbillige Härte vermieden wird, aber auch dafür, dass den radikalen Elementen in der BVG-Belegschaft der Standpunkt klargemacht wird.“

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"Fünf Tage für „Arbeit, Brot und Freiheit“", UZ vom 2. Dezember 2022



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