Nicht der Konsum, sondern die Sphäre der Produktion gehört in den Mittelpunkt der Klimadebatte

Fünf nach zwölf

Von Manfred Sohn

Im Jahre 1972 erschien die Studie „The Limits to Growth“ des „Club of Rome“. Die von ihr angestoßene Diskussion ließe sich unter der Überschrift zusammenfassen, es sei „fünf vor zwölf“.

Ab August 2018 löste die schwedische Schülerin Greta Thunberg mit ihren Sit-Ins vor dem Parlamentsgebäude in Stockholm die „Fridays for Future“-Bewegung aus, an der sich in den Folgemonaten Millionen Menschen beteiligten. In ihren Reden weist Thunberg darauf hin, dass, wenn nicht sofort etwas geschähe, „wir“ – also die Spezies Mensch – eine „irreversible Kettenreaktion jenseits menschlicher Kontrolle auslösen“ würden. Diese führe zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen. Sie verwendet zwar den Begriff „fünf vor zwölf“ nicht, aber das Muster ist dasselbe: Noch sei es nicht zu spät.

Der Vergleich zwischen beiden Ereignissen führt entweder zu der Schlussfolgerung, Dennis Meadows und die anderen hätten 1972 geirrt – es wäre damals dann nicht fünf vor zwölf, sondern bestenfalls halb zwölf gewesen. Oder aber die Uhr ist seitdem stehengeblieben. Oder aber die Argumentationsfigur, der sich sowohl Meadows als auch Thunberg bedienten bzw. bedienen, ist zumindest für eine der beiden falsch.

Es spricht vieles dafür, dass Letzteres zutrifft. Die Mehrheit der staatlich angestellten Wissenschaftler, die sich mit den Gründen der Erderwärmung befassen, führen sie auf Menschenwerk zurück. Ursachenunabhängig ist es Fakt, dass die Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre sich zügig erhöht und das Erreichen des Zieles, sie auf 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, praktisch nicht mehr möglich ist. Sind tatsächlich die menschlichen Aktivitäten dafür verantwortlich und nicht etwa Veränderungen auf der Sonnenoberfläche, wird sich das nicht abbremsen, sondern beschleunigen: Während in Deutschland heftig um das Abschalten der hiesigen 150 Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 45 Gigawatt gestritten wird, planen die 120 größten Energiekonzerne der Welt auf diesem Globus zur Zeit den Bau von 1 400 neuen Kohlekraftwerken mit einer Gesamtkapazität von 670 Gigawatt – überwiegend in China, Indonesien, Vietnam, Pakistan, Bangladesch, aber auch zum Beispiel in Südafrika.

Es sieht also alles danach aus, dass es nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach zwölf ist.

Grundlegende Funktionsmechanismen

Den Grund hat wiederum rund 100 Jahre vor Dennis Meadows ein anderer, Karl Marx, gefunden und in seinem bekanntesten Buch, dem „Kapital“, in den Satz gekleidet, die kapitalistische Produktion werde, wenn sie nicht überwunden würde, die „Springquellen allen Reichtums“ untergraben, die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23, Kapitel 13). Weil das nach wie vor stimmt, ist auch eine andere beliebte Denk- und Argumentationsfigur falsch: Häufig wird – auch in linken Zeitungen – geschrieben, es könne ja sein, dass die Naturzerstörung innerhalb des Kapitalismus nicht mehr aufhaltbar sei. Aber weil die Zeit so dränge, müsse die Frage der Umweltzerstörung noch innerhalb kapitalistischer Rahmenbedingungen gelöst werden, sonst würde die Zivilisation untergehen, ohne die es ein Voranschreiten zum Sozialismus nicht geben könne.

Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die Klimaverschiebungen werden nicht nur Länder wie den Iran oder Irak für große Menschenmengen so unbewohnbar machen wie es jetzt schon die Wüste Sahara ist. Schon zu unseren Lebzeiten werden große Teile Spaniens zur Wüste werden und die dort jetzt noch Lebenden zwingen, ihr Dasein in anderen, grüneren Regionen zu fristen. Die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 oder auch die Wahlergebnisse zum Europaparlament 2019, die zum Teil der ungebildet-rohe Reflex angstgetriebener Massen auf diese Flüchtlingswelle waren, sind beide nur das Vorspiel größerer Ereignisse.

Es wäre ja gar nicht schlecht, wenn es anders wäre – dann könnten uns ein paar Reformen, Steueränderungen und individuelle Verhaltensweisen retten. Die Wahrheit aber ist: Es wird keine innerkapitalistische Lösung geben. Die 120 Energiekonzerne handeln innerhalb der kapitalistischen Logik folgerichtig. Solange Markt und Tauschwirtschaft das gesellschaftliche Handeln prägen, gibt es keine „Grenze des Wachstums“ außer den dann von der Natur gesetzten. Die Natur wird nicht den Untergang der Menschheit anordnen. Die Inuit auf der einen und die Beduinen auf der anderen Seite beweisen die Anpassungsfähigkeit dieser Spezies zumindest extremen Klimabedingungen gegenüber. Wir befinden uns seit 1989, dem Jahr des Scheiterns des nach der „Pariser Kommune“ zweiten Versuchs, die planende Vernunft anstelle des Handelns „hinter dem Rücken der Produzenten“, also der Tauschwirtschaft, zu setzen, im Epochenbruch. Er führt zu politischen Verhältnissen, die alles bisher Gewohnte umpflügen werden – so oder so.

Der Ablasshandel

Jeder, der sich in der Tradition Lenins sieht, kennt eine der Grundvoraussetzungen für das Heranreifen revolutionärer Situationen: Nicht nur die Beherrschten müssen den Willen entwickeln, nicht mehr so weiterleben zu wollen wie bisher – auch die Herrschenden müssen in die Situation geraten, nicht mehr weiter so herrschen zu können wie bisher.

An der Klimafrage erleben wir zur Zeit eine erstaunliche Verunsicherung der Herrschenden. Es ist ihnen zwar gelungen, die CO2-Emissionsfrage in den Mittelpunkt der ganzen Debatte zu rücken. Aber ein zentrales Mittel dieser Debatte, die Möglichkeit, sich per Kompensationszertifikaten vom schlechten Gewissen freizukaufen, führt in ihren Kreisen selbst zu Zynismus und Resignation. „Die Ablasshändler“ überschreibt die reaktionäre „Wirtschaftswoche“ am 26. Juli 2019 ihre Titelgeschichte und bringt das weltweit florierende System mit Umweltzertifikaten gekonnt auf den Punkt: „Unternehmen und Verbraucher dürfen am einen Ende der Welt der Umwelt freveln, wenn sie sich am anderen Ende der Welt für den Umweltschutz engagieren, das ist die Logik des sogenannten freiwilligen Kompensationsmarktes (…). Das gemeinsame Versprechen von Politik, Unternehmen und Gutschriftenverkäufern: Wachstum ohne schlechtes Gewissen, ein klimatisches Nullsummenspiel, vielleicht sogar ein Plus für die Umwelt. Am besten, man stellt sich Zertifikatverkäufer als eine Art Waschmaschine für die kleinen und großen Sünden der westlichen Konsumgesellschaft vor.“ Papst Franziskus, so führt das Blatt den Kronzeugen für den historisch erfolgreichsten Ablasshandel an, halte das alles für „Heuchelei“.

Wolfgang Kaden, ehemaliger Chefredakteur des „Spiegel“ und des „Manager Magazins“ bilanziert in einem düsteren Artikel in der Juli-Ausgabe des im Springer-Verlag erscheinenden Wirtschaftsmagazins „Bilanz“, dass in dieser Gesellschaft „keinerlei Bereitschaft für eine wirkliche Umkehr“ erkennbar sei und stellt fest: „Alles, was an Ressourcen und Abgaben eingespart werden könnte, wird durch den offenbar unaufhaltsamen Mehrverbrauch überkompensiert. Ungebrochenes Wachstum ist nach wie vor die Religion dieser Gesellschaft.“

Wenn solche Gedanken nicht nur in systemoppositionellen Organisationen, sondern in den Säulenhallen der kapitalistischen Gesellschaft selbst kreisen, verschwindet jegliche historische Zuversicht aus ihren Tempeln.

Der 20. September

Die Ökologiebewegung war (und ist) traditionell auch deshalb ein Hort individualistischer Politikansätze, weil in ihr bei Millionen Menschen der Gedanke verfangen hat, die Umwelt könne gerettet werden, wenn jeder für sich vegan esse, Fahrrad statt Auto fahre oder Bio-Lebensmittel einkaufe. Es liegt auf der Hand, dass eine derart individuelle Lösung beispielsweise für die Frage von Krieg und Frieden nicht möglich ist – für die Rettung des Klimas schien das lange Zeit eine Art Königsweg.

Die Dortmunder Konferenz der „Fridays for Future“-Bewegung vom Anfang August hat nicht nur die Notwendigkeit des gesamtgesellschaftlichen, gesetzlichen – also kollektiven – Handelns in den Mittelpunkt ihrer strategischen Diskussionen gerückt. Allein das schon wäre ein Schritt nach vorne heraus aus dem Gedankengefängnis des Individualismus, in dem selbst fortschrittliche Menschen seit dem Siegeszug des sogenannten Neoliberalismus („So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht“ – Magaret Thatcher) gefangen sind.

Die Konferenz ist aber noch einen Schritt weiter gegangen, indem sie für Freitag, den 20. September aufgerufen hat, nicht nur Schulen, sondern auch Betriebe zu bestreiken. Damit geschieht – wenigstens potentiell und in der Perspektive – zweierlei: Einmal werden die Gewerkschaften in die Auseinandersetzungen hineingezogen. Aber mehr noch: Bislang spielen sich die Debatten um Maßnahmen fast ausschließlich in der Sphäre der gesellschaftlichen Konsumtion ab. Gestritten wird um die CO2-Steuer, die die Belastungen vor allem für die sozial unteren Schichten erhöhen (und sie nebenher, vielleicht gewollt, in die Arme der AfD treiben würde). Ihre Einführung in Kombination mit den dann wie Karotten für störrische Esel angepriesenen „Belohnungen“ für ökologisch bewusst Lebende verrät nicht nur ein verächtliches Menschenbild, sondern würde unter dem Strich dazu führen, dass die wohlhabenden Mittelschichten (von den wirklich Reichen ganz zu schweigen) mit den CO2-Steuern, die Hartz-IV-Empfänger und Geringverdiener abdrücken, ihre Eigenheimfassaden steuerbegünstigt ökologiesanieren könnten und als Zusatz-Bonbon von oben auf die unteren Klassen herabschauen könnten. Aber selbst die Alternativforderungen – beispielsweise nach Verbot von Inlandflügen oder mehr Anreizen für den öffentlichen statt individuellen Personenverkehr – zielen auf die Konsumenten und ihr Verhalten. Völlig jenseits der gegenwärtigen Diskussion liegt aber die Sphäre, die in den Mittelpunkt aller Debatten gehört, wenn wir einen grundlegenden Wechsel für eine andere Lebensweise erreichen wollen: Der Bereich der Produktion. Ihn nicht nur indirekt über steuerliche oder andere marktwirtschaftliche Hebel zu beeinflussen, sondern durch gemeinsame demokratische Planung zu bestimmen, was wir als Gemeinschaft wie produzieren – das wird auch für die Klimafrage mehr und mehr eine zentrale Forderung.

Selbstkritik

Es gibt keine andere Perspektive als den Sozialismus, also die weltweite Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die gesamtgesellschaftliche Planung ihres Einsatzes auf der Basis von kommunalen Assoziationen freier Produzenten. Die sich an Marx, Lenin und Luxemburg orientierende Linke wird sich aber zu der von ihnen schon einmal erklommenen Höhe der Erkenntnis hinsichtlich der Gleichwertigkeit von Arbeit und Natur als den beiden Quellen all unserer Reichtümer – nicht nur der materiellen – hinaufzuarbeiten haben. Das geht nicht ohne Selbstkritik. Völlig konzentriert auf die Beseitigung der Armut für die Arbeitenden, war die Praxis des großen Versuchs von 1917 bis 1989 eben auch geprägt von einer Geringschätzung der Marxschen Warnung, die Menschen seinen „nicht Eigentümer der Erde“, sondern nur ihre Nutznießer und sie hätten „sie als boni patres familias“ (gute Familienväter) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen“. Es reicht nicht, wie im 20. Jahrhunderts für viele Jahrzehnte gelungen, an die Spitze des Kampfes um die Würde der Arbeit zu kommen. Die Linke muss, will sie nicht versagen, auch an die Spitze des Kampfes um unsere natürlichen Lebensgrundlagen kommen.

Zu bekämpfen ist die verlogene Scheinlösung, nur Antriebssysteme in den Millionen Autos zu ersetzen. Um aber die Produktionsweise selbst in den Blick zu rücken, gehört in den Forderungskatalog auch das Beenden des Wahnsinns, dass für jeden Bundesbürger pro Jahr fünf Tonnen Güter exportiert und acht importiert werden – also die Umkehr der Globalisierung und die Erzwingung konsequent regionalisierter Wirtschaftskreisläufe auf der Basis kommunalen Eigentums und gesamtgesellschaftlicher Planung.

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"Fünf nach zwölf", UZ vom 20. September 2019



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