Am 28. Juli 1973 wurden die X. Weltfestspiele der Jugend in Berlin eröffnet. UZ war mit einer Festival-Sonderredaktion dabei

Fünf Kontinente vereint beim X.

Hubert Reichel

Algerien hatte sich elf Jahre zuvor die Unabhängigkeit erkämpft, die Solidarität mit Vietnam verband Jugendliche in Ost und West, und Chile unter Allende hatte bis dato noch sämtliche Putschversuche abgewehrt: Unter den mehr als 25.500 Delegierten, die am 28. Juli 1973 der Eröffnung der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin, Hauptstadt der DDR, beiwohnten, muss die Aufbruchstimmung fühlbar gewesen sein. Hubert Reichel hielt sie in der UZ vom 3. August 1973 fest:

Bei der Eröffnung des Festivals in der Hauptstadt der DDR notiert

Wußten Sie, daß die Delegierten der X. Weltfestspiele eine Generation repräsentieren, die heute die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht? Daß manche Delegierten den halben Erdball durchreisen mußten, um Berlin, die Gastgeberstadt des Festivals, zu erreichen? Am vergangenen Sonntag war es endlich soweit: Im Berliner Festivalstadion fiel mit einer mitreißenden Eröffnungsveranstaltung der Startschuß für die größte und repräsentativste Jugendbewegung unserer Tage. Die UZ war dabei.

Der Einmarsch beginnt. An der Spitze die Gastgeber des letzten Festivals – die Vertreter des Dimitroff-Komsomol. Von Sofia aus ging 1968 der dringende Ruf an die Jugend aller Kontinente, die Solidarität mit dem kämpfenden Vietnam zu verstärken und die Beendigung der US-Aggression zu erzwingen. Dieser Appell wurde zum Impuls für unendlich viele Aktionen in allen Teilen der Welt, zur gemeinsamen Kampflosung für Jugendliche unterschiedlicher Hautfarbe, Weltanschauung und politischer Richtung.

UZ vor50Jahren - Fünf Kontinente vereint beim X. - 1973, Berlin, X. Weltfestspiele - Blog

Und nun kommen sie ins Stadion – die siegreichen Kämpfer aus der Republik Vietnam und aus der DRV. In der ersten Reihe der junge Nguyen Trien aus dem Gebiet Ha Tinh im Süden der DRV. „Wir spürten ständig die Solidarität, und wir fühlten uns nie allein“, sagte er uns bei der Ankunft in der Hauptstadt der DDR. „Die Solidarität gab uns die Kraft, auch in den schwersten Stunden fest an unseren Sieg über die amerikanische Aggressoren zu glauben.“ Nguyen Trien ist Mitglied einer Brigade, die seit 1965 Gleisanlagen, Straßen und Brücken wiederherstellt, die von US-Bombern zerstört wurden. 293 Bombenangriffe überlebte er. 15 mal wurde er verschüttet.

Grüßend winkt er hinauf zu den Rängen. Und von dort klingt es: „Solidarität geht weiter, für das Volk in Vietnam…“ Die Solidarität muß weitergehen, um die strikte Einhaltung der Pariser Abkommen durchzusetzen und um die 200.000 politischen Häftlinge aus den Zuchthäusern des Thieu-Regimes zu befreien.

Die nächsten Delegationen: Ägypten, Angola, die jungen Kämpfer gegen israelische Aggression und portugiesischen Kolonialterror. Beim Einzug der selbstbewußten Vertretung Algeriens gehen die Gedanken zurück in das Jahr 1951, zu den 3. Weltfestspielen in Berlin.

Damals trafen wir uns mit jungen Algeriern, die von der Befreiung ihres Landes vom Kolonialjoch träumten. Damals war der schwarze Kontinent noch fest in der Hand ausländischer Kolonialherren. Heute marschieren die Vertreter zahlreicher unabhängiger Nationalstaaten Afrikas ins Berliner Zentralstadion ein. Sie vertreten Länder, die sich für den nichtkapitalistischen Weg entschieden und in die antiimperialistische Front eingereiht haben.

„Horch, was kommt von draußen rein…“ intoniert die Kapelle. Allen Unkenrufen und Störversuchen zum Trotz nehmen aus der Bundesrepublik Vertreter von 45 Organisationen, zusammengeschlossen in einer gemeinsamen Delegation des Initiativausschusses X. Weltfestspiele, am Berliner Festival teil. An der Spitze des Zuges die Repräsentanten der SDAJ und MSB Spartakus, der Jusos und der Gewerkschaftsjugend, des SHB und des VDS, der Evangelischen Jugend und des Bundesjugendringes.

Es stimmt: Noch nie hat sich eine so vielfältige Masse junger Menschen aus allen Kontinenten zusammengefunden, wie das zu diesen Weltfestspielen möglich war. Junge Sozialisten, Kommunisten, Christen, Liberale, Radikale, Sozialdemokraten, kurz, Menschen unterschiedlichster Weltanschauung und Religion haben in vielen Ländern ein Beispiel für praktische Aktionseinheit zu fest umrissenen Problemen gegeben. Außer Kraft gesetzt wurden dabei antiquierte Antikommunismus-Beschlüsse. Und so sind bei diesem Festival die Vertreter von 45 Verbänden aus der BRD, von 600 finnischen Jugend- und Studentenverbänden dabei. In der Delegation aus Panama sind 56 Verbände vertreten, in Frankreich 40. Auch das spricht für die Lebenskraft der Festivalideen.

Diese Ideen haben auch in Lateinamerika starke Resonanz gefunden. Mit donnerndem Applaus werden die Vertreter Chiles begrüßt, das alle Putschpläne der in- und ausländischen Reaktion abwehren konnte.

Längst vorbei ist die Zeit, da Lateinamerika als „Hinterhof“ der USA galt und vom US-Imperialismus brutal ausgeplündert werden konnte.

Kuba machte den Anfang. Fast auf den Tag genau sind zwanzig Jahre vergangen, daß der Sturm auf die Moncada-Kaserne das Signal für den Sturz der Batista-Diktatur gab. Das war der erste Schritt zu einem Staat auf dem lateinamerikanischen Kontinent, der den Weg zum Sozialismus einschlug.

Teofilo Stevenson trägt die kubanische Fahne. Er erkämpfte im olympischen Boxturnier in München die Goldmedaille im Schwergewicht. Danach lockten ihn die Manager des Profisports mit Rekordgagen. Teofilo konterte: „No! Ich liebe meine Heimat, meinen Beruf und meinen Sport. Ich will keine Ware sein, die jederzeit verkauft werden kann. Ich bleibe meiner sozialistischen Heimat treu.“

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Die Marseillaise erklingt. In den Reihen der französischen Delegation marschieren kampferprobte junge Arbeiter von Renault und mit ihnen kam Raymonde Dien. Vor dem Einzug ins Stadion sagt sie: „Ich bin überglücklich, ein zweites Mal bei Weltfestspielen in Berlin zu sein.“ Raymonde machte Schlagzeilen in der Weltpresse, als sie sich 1950 auf die Gleise eines Rangierbahnhofes bei Tours warf, um einen Munitionszug zu stoppen, der Waffen für den schmutzigen Krieg in Indochina beförderte. Ein Militärgericht verurteilte sie zu einem Jahr Gefängnis, aber ihre Tat wurde für die Jugend der Welt zu einem Symbol, zu einem Beispiel für mutigen Kampf gegen den Imperialismus.

Man könnte ein Buch schreiben über diesen Einmarsch der Delegierten aus 119 Ländern der Welt. Denn in jeder Delegation gibt es Kämpfer wie Raymonde Dien und Nguyen Trien. Alle Fronten des antiimperialistischen Kampfes sind hier vertreten: Die jungen Illegalen aus Spanien, Griechenland und Portugal, die gegen den Faschismus kämpfen. Die Kämpfer der Befreiungsfronten aus Angola, Südafrika und Mocambique. Die Jugend der jungen Nationalstaaten wie die der noch kapitalistischen Länder.

Sie weiß, daß sie in der Jugend der Sowjetunion und der sozialistischen Länder starke und zuverlässige Verbündete hat. Das zeigen die Ovationen, mit denen die Vertreter des Leninschen Komsomol und die Delegierten der sozialistischen Staaten im Stadion begrüßt werden. Die Enkel jener Revolutionäre, die mit dem Roten Oktober ein neues Blatt in der Geschichte aufschlugen, – sie geben mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft ein Beispiel für alle, die gegen den Imperialismus kämpfen.

Der Marschblock der Mädchen und Jungen aus der DDR beschließt den Einmarsch der Delegationen. Noch einmal eilen die Gedanken zurück in das Jahr 1951, als die 3. Weltfestspiele in Berlin stattfanden.

Welch ein Kontrast! Damals trug die DDR-Hauptstadt noch die Narben des Krieges. Des heißen, der 1945 zu Ende ging, und des kalten, der auf dem Höhepunkt war. Das war die Zeit, in der Kommunisten in der BRD in die Gefängnisse gehen mußten, weil sie für vernünftige Beziehungen zur DDR eintraten. In der junge Bundesbürger mit Polizisten und Hunden gehetzt wurden, weil sie zum Festival nach Berlin wollten. Das war die Zeit der Bonner Träume, man könne die DDR isolieren, abschaffen, „befreien“, heim ins kapitalistische West-Reich holen.

Heute ist die sozialistische DDR von den meisten Staaten der Welt anerkannt. Anerkannt nicht nur auf der diplomatischen Ebene. Der französische Schriftsteller Pierre Gamarra sprach sicher die Gedanken der meisten Festivalteilnehmer aus, als er vor Journalisten sagte: „Es ist sehr gut, daß das Festival in Berlin stattfindet, weil die DDR ein gutes Beispiel für den Kampf um den Frieden auf unserem Kontinent ist.“

Deshalb findet man auf vielen Transparenten, die von den Delegationen mitgeführt werden, Worte des Dankes und der Anerkennung. Deshalb ertönen in vielen Sprachen Hochrufe auf die sozialistische DDR und ihre Jugend. Deshalb marschiert ein Delegierter aus dem Sudan mit einem Bild Erich Honeckers über die Aschenbahn, das er irgendwo auf dem Weg ins Stadion „abmontiert“ hatte.

Das Berlin dieser Tage hat keine Ähnlichkeit mehr mit der Hauptstadt des Jahres 1951. Einer, der das Gesicht der Stadt verändert hat, marschiert mit der DDR-Delegation ins Stadion. Es ist der Bauarbeiter Peter Rothenburg, 21, Genosse. Er hat mitgearbeitet an den neuen Wohnhäusern am Fischerkietz, am Leninplatz und in der Rathausstraße. Wir werden ihn in den nächsten Tagen wiedersehen. Beim Treffen der jungen Bauarbeiter. Und ganz sicher wird er seinen Kollegen aus der Bundesrepublik erklären können, wie die DDR das macht: Mieten runter – Löhne rauf!

Wir werden viele wiedersehen, die uns heute im Stadion begegnet sind. Hier, wo die Jugend aller Kontinente heute demonstriert hat, eine wie mächtige Kraft sie ist, wenn sie sich unter dem Motto „Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft“ zum gemeinsamen Kampf zusammenschließt.

Fotogalerie

Fotograf Rudi Denner beschreibt seine Eindrücke von den X. Weltfestspielen knapp auf der Seite von r-mediabase. Eine Auswahl seiner Bilder haben wir hier zusammengestellt:

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Lohnenswert auch die gut einstündige DEFA-Dokumentation „Wer die Erde liebt“ von 1973 über die X. Weltfestspiele:

In der UZ vom 28. Juli 2023 teilt Hartmut König seine Erinnerungen an die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten:

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