Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli begann, hat sich die Bundesregierung Großes vorgenommen. Im Kabinettsentwurf des Auswärtigen Amtes für das „nationale Programm“ des kommenden Halbjahres heißt es: „Unsere Aufgabe als Ratspräsidentschaft geht dabei weit über die unmittelbare Bewältigung der aktuellen Pandemie-Situation hinaus.“ Die Erwartungen „unserer Partner“ seien „groß, dass wir auch weitere wichtige Zukunftsthemen voranbringen“. Genannt werden als „die großen Transformationsprozesse unserer Zeit“ Klimawandel, Digitalisierung, Wandel der Arbeitswelt sowie die verschärfte Konkurrenz zwischen den großen Machtblöcken. Wörtlich: „In einer Welt zunehmender Polarisierung muss europäische Politik auch die Handlungsfähigkeit Europas nach außen stärken, um europäische Interessen zu verteidigen und unsere Verantwortung in der Welt wahrzunehmen.“
Übersetzt besagt das: Der deutsche Imperialismus will die Krise nutzen, um einen wichtigen Schritt beim Ausbau seiner Hegemonie in der EU zu tun. Einziges Problem: Niemand weiß, wie tief die wirtschaftliche Talfahrt gehen und wie groß die sozialen Verwerfungen sein werden, die ihr folgen.
Die Wortwahl der politischen Repräsentanten ist – anders als in der Krise 2008 und den Folgejahren – moderat. Zwar mangelt es nicht an Kraftmeierei, etwa wenn Bundesfinanzminister Olaf Scholz bei Vorlage des ersten Nachtragshaushaltes in Höhe von 156 Milliarden Euro zur Krisenbewältigung im Bundestag protzte: „Wir können uns das leisten.“ Außerhalb des Parlaments schwadronierte er gar von „Bazooka“, „Weil wir es haben“ und später vom „Wumms“. Vor mehr als zehn Jahren verkündete die Bundeskanzlerin noch in aller Klarheit, die Bundesrepublik solle „gestärkt“ aus der Krise hervorgehen. Das ist, gemessen am größer gewordenen wirtschaftlichen Vorsprung, gelungen. Überwunden aber wurden beim deutschen Vormarsch weder die Wirtschaftskrise noch die zentrifugalen Kräfte innerhalb der EU. Im Gegenteil: Großbritannien kam abhanden, Italien bleibt ein Wackelkandidat, ist aber wie andere als Absatzmarkt und Zulieferer für die deutsche Industrie unerlässlich. Die Neugestaltung des imperialistischen Konstrukts EU wird dringlich.
Die Vertreter des deutschen Kapitals halten mit dem angestrebten Ziel weniger hinter dem Berg. So zitierte das „Handelsblatt“ am 28. Juni den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben: „Wir werden einen langen Atem brauchen, um am Ende gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen.“ Er fasste damit eine DIHK-Befragung von 8.000 Unternehmen zusammen, die am vergangenen Dienstag vorgestellt wurde. Etwa die Hälfte der befragten Betriebe erwartet demnach frühestens 2021 die Rückkehr „zur geschäftlichen Normalität“.
Der Beifall der leitenden Medien für den Ansatz der Bundesregierung ist einhellig. Am 30. Juni schrieb „FAZ“-Außenpolitikchef Klaus-Dieter Frankenberger von einem „Paradigmenwechsel in der deutschen Europapolitik“. Neben der Krise gebe das beunruhigende „weltpolitische Wetterleuchten“, vor allem der kalte Krieg zwischen USA und China, der europäischen Einigung „generell neue Impulse“. Die Bundesregierung müsse in dieser Situation „Leadership“ beweisen. Das „Handelsblatt“ konstatierte am selben Tag, die Zeit, da der britische „Economist“ die Bundesrepublik als „den widerwilligen Hegemon“ habe bezeichnen können, sei vorbei. Berlin und Paris übernähmen wieder „ihre angestammte Führungsverantwortung“. Die deutschen Eichen wachsen wieder in den Himmel.