Am Samstag, 28. 11. 15, wurde in Kempten auf Initiative des Vereins „Stolpersteine Kempten und Umgebung“ an dem Hause Hohe Gasse 19 eine Gedenktafel für den Antifaschisten, Gewerkschafter und Kommunisten Willy Wirthgen enthüllt. Der Akt wurde moderiert von Martin Huss vom Verein Stolpersteine, die Hauptrede hielt der Historiker Dr. Dieter Weber, Grußworte sprachen die 2. Bürgermeisterin Sibylle Knott und Stadtheimatpfleger Tilman Ritter. Die Enthüllung nahmen Christiane Jansen (Hausmitbesitzerin) und Bürgermeisterin Knott vor. Begleitende Worte zur Enthüllung sprach Dietmar Jansen (Hausmitbesitzer und 1. Bevollmächtigter der IG Metall Allgäu). Unter den 60 – 70 Gästen befanden sich u. a. ver.di-Bezirksgeschäftsführer Werner Röll, Telekom-Betriebsratsvorsitzender Peter Höflinger und der Heimathistoriker Markus Naumann, der Verdienste um die Erforschung der KZ-Außenlager im Allgäu und der Geschichte der Allgäuer Zwangsarbeiter hat.
Die Hauptrede behandelte überwiegend die Erforschung und Aufarbeitung der Biografie Willy Wirthgens. Im Jahre 2010 wurde vor demselben Haus ein Stolperstein verlegt, auf Grund sehr weniger und mangelhafter Informationen. Ein aufgefundener Artikel aus „Der Allgäuer“ aus dem Jahr 1947, damals die einzige Zeitung in Kempten und Umgebung, suggerierte, dass Willy Wirthgen im KZ Dachau oder auf einem der Todesmärsche ums Leben gekommen ist. Vage Erinnerungen aus dem Kreis Kemptener Kommunisten besagten jedoch: er kam aus dem KZ doch noch zur Wehrmacht und wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mehr war nicht mehr bekannt. Mit viel Hickhack und auch Zufälligkeiten (z. B. entdeckte der Verfasser dieser Zeilen im Jahre 2011 Willy Wirthgen plötzlich in einem eher rechtslastigen Kriegsgefallenenportal als bestattet im deutschen Kriegsgräberfriedhof in Bourdon bei Amiens) wurde die Biografie aber inzwischen weitgehend aufgeklärt:
Willy Wirthgen wurde 1904 in Rabenau in Sachsen geboren. Lernte Sattler, Polsterer und Tapezierer. 1925 bekam er fünf Tage Haft in Ebersberg wegen „Bettelns“ (Wanderschaft? Sammlung für Rote Hilfe?), 1927 wird er Mitglied der KPD, 1928 kommt er nach Kempten. 1931 wird er nach Besuch der Parteischule in Berlin Agitpropleiter in Kempten. Erhält im Juni dieses Jahres drei Wochen Haft wegen „groben Unfugs“. Außerdem ist er 1931 Vorsitzender des „Erwerbslosenausschusses“ in Kempten. 1932 erhält er einen Monat Gefängnis wegen „Abhaltens einer Versammlung“. 1933 produziert er nach der Machtübertragung an Hitler illegal noch zwei Monatsausgaben der KPD-Zeitung „Kempter Mosaik“ auf der Alpe Kammeregg und der Schwarzalpe auf dem Berg Grünten. Nach Denunziation verhaftet, wird er im Mai vom Polizeigefängnis in München in das KZ Dachau eingeliefert. Laut Dokumenten ist er der „führende Kopf der Kommunisten im Allgäu“ und „bei ihm handelt es sich um einen besonders gefährlichen Kommunisten“. 1935 wieder freigelassen, arbeitet er in Kempten, Bad Wörishofen und Sonthofen wieder als Polsterer und Tapezierer. Am 10. September 1939 wird er im Rahmen der „Aktion 1. 9.“ (dem Tag des Überfalls auf Polen) wie viele andere schon früher Eingesperrte in das KZ Buchenwald eingeliefert. In den dortigen Akten ist er „wehrunwürdig“ gestempelt. Am 20. 1. 1940 wird er dort wieder entlassen. Nach den bislang unklaren Monaten bis zum 2. 12. 1940 findet er sich zur Grundausbildung in einer Flakeinheit der Wehrmacht in Oggau (am Neusiedler See). Durch zunehmenden Blutzoll der Wehrmacht konnte man auch auf „Wehrunwürdige“ nicht mehr verzichten. Am 10. 12. 1943 wird er vom Feldgericht des Kommandeurs der 16. Flak-Division wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Das Urteil ist nach bisherigen Auskünften verschollen. Nach mündlicher Überlieferung war ein Gespräch im Treppenhaus unter Freunden anlässlich eines Heimaturlaubs, das von der Vermieterin denunziert wurde, die Grundlage. Nach Bestätigung des Urteils durch Reichsmarschall Hermann Göring (die Flak gehörte zur Luftwaffe) im Februar 1944 wurde Willy Wirthgen am 3. 4. 1944 im Fort de Bondues bei Lille um 7.30 Uhr erschossen. Nach erster Verscharrung im Friedhof Marquette bei Lille wurde er 1962 auf den neu eröffneten Kriegsgräberfriedhof Bourdon umgebettet.
Im Fort de Bondues befindet sich heute ein „Musée de la Résistance“ in Erinnerung an dort ebenfalls füsilierte 68 Kämpfer der Résistance.