Führe uns nicht in Versuchung

Olaf Matthes über Ratzingers Missbrauch-Analyse

Der Hirte richtet seinen verklärten Blick vom Gekreuzigten hinab in den Schmutz des Diesseits. Er muss ansehen, dass der Teufel das sündige Fleisch verleitet, ganz regellos zu kopulieren und keine Kirchensteuer mehr zu zahlen. Selbst in der heiligen Gemeinschaft der Kirche, stellt er erschauernd fest, hören angehende Priester einfach damit auf, sich auf althergebrachte Weise zu schämen und zu geißeln, weil sie schwul sind. Solcherart zeigt sich unserem Gottesmann der Verfall der guten, alten, rechtgläubigen Zeit. Wenn er deswegen auch nur ein klein wenig schwach wird in seinem Glauben – was bleibt ihm? Natürlich: Er zieht den nächstbesten Minis­tranten in die Sakristei.

So erklärt ein in Rom lebender weißgekleideter Greis, warum es selbst in der erhabenen römisch-katholischen Kirche dazu kommen konnte, dass Geistliche Kinder und Jugendliche missbrauchen. In Folge der Bewegung von 1968 seien in einem „ungeheuerlichen Vorgang“ die „bisher geltenden Maßstäbe in Frage Sexualität“ weggebrochen, damit sei „Normlosigkeit“ eingezogen. In der „westlichen Gesellschaft“ sei „Gott abwesend“, daher gehe „das Maß des Menschlichen immer mehr verloren“ – und selbst in der Kirche breitet sich Pädophilie aus.

Dieser Herr Ratzinger beklagt den Missbrauch, und er beklagt, dass viele Menschen beim gemeinsamen Essen von Oblaten nicht ausreichend „Ehrfurcht“ spüren ob „der Anwesenheit von Tod und Auferstehung Christi“. In dem Aufsatz, in dem er in der vergangenen Woche seine Sicht auf die Aufarbeitung des Missbrauchs vorgestellt hat, ist beides nur ein Ausdruck der Abwesenheit Gottes – und damit nicht grundsätzlich verschieden. Und: „Die Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist ein Vorschlag des Teufels“, schreibt Ratzinger, die Kirche ist heilig, so wie sie ist – selbst in den Strukturen, die offensichtlich sexuellen Missbrauch begünstigen und die Täter schützen.

Natürlich haben auch katholische Theologen gegen Ratzingers Aufsatz protestiert und natürlich wissen wir, dass selbst eine Bischofsmütze den Kopf darunter nicht immer davon abhält, vom Kampf gegen die Ausbeuterordnung zu denken. Sein Aufsatz ist trotzdem eine nützliche Erinnerung daran, wie weit die in der katholischen Kirche verwurzelte Reaktion zurück will: Weit hinter die Aufklärung. Die tausend Jahre alte menschenfeindliche Doppelmoral gehört dann eben dazu.

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"Führe uns nicht in Versuchung", UZ vom 18. April 2019



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