Sebastian Flemings historischer Roman „Nacht über der Alhambra“

Frühe Aufklärung

Von Rüdiger Bernhardt

Sebastian Fleming: Nacht über der Alhambra. Historischer Roman. Ehrenwirth by Bastei Lübbe, Köln 2017, 583 Seiten., 22,- Euro

Kämpfe mit Krummsäbel oder Schwert, Intrige und Mord, eine abgebissene Nase als Widerstand gegen Folter, Sternstunden der Liebe und sexuelle Exzesse katholischer Prälaten und Kardinäle, Lügen und Verleumdungen, Kreuzzüge und fortwährender Krieg, Bürgerkrieg in Kastilien und schließlich ein neues geeintes Spanien ohne Fremdherrschaft – aus diesem oft verwirrenden Gemisch von Abenteuern und politischen Manipulationen wird ein historischer Roman. Zusammengehalten wird alles von den Lebensläufen Nurias und Joanots, die laut Weissagung einer Bettlerin füreinander bestimmt sind, getrennt werden, aber schließlich doch zueinander kommen. Die Vielfalt und das Happy End werden vielen Lesern gefallen.

Doch der Roman bietet mehr. Wer sich auf die Fülle historischer Details einlässt, die durch eine abschließende Tabelle und eine beigefügte Karte überschaubar werden, erfährt über Provokationen, die zum Kriege führen, über machtpolitische Spiele, bei denen das Volk das Recht hat zu sterben, über militärische Bündnisse, die im Namen einer erlogenen „Wahrheit“ zur Verteidigung, tatsächlich zum Angriff aufrufen – dem Leser kann vieles gegenwärtig erscheinen. Politische Aktualität entsteht scheinbar zufällig, aber diese Aktualität ist vom Autor gewollt, der nicht nur Spannung, sondern geschichtliche Erfahrungen und Warnungen bieten möchte.

Bereits im Personenverzeichnis am Beginn wird dem Leser angekündigt, dass es neben der Haupthandlung und deren „Protagonisten Nuria/Jorge und Joanot/Yahya“ um die politische, militärische und wirtschaftliche Auseinandersetzung zweier gegensätzlicher Mächte geht, zwischen dem Osmanischen Reich (Sultan Mehmet II.), das zum „Weltreich“ strebt, und Spanien (mit verschiedenen Königreichen), in dem es keine nationale Einheit gibt. Fast jedes Kapitel mutet aktuell an: Parallelen zu IS und Flüchtlingen drängen sich auf, die Beziehung von christlichem Abendland und Islam wird vielfach reflektiert, Wert und Bedeutung der Toleranz geraten in Gefahr. Selbst die katalanische Unabhängigkeitsbewegung wird gespiegelt, beim Entstehen des Romans keineswegs in der Schärfe wie heute die Politik beschäftigend. Das macht den Roman über seinen Unterhaltungs- und Spannungscharakter hinaus interessant. Der Autor nutzt die geschichtliche Epoche, die uns als Erfahrung vorliegt und die von ihm als Handlungsvorschläge für die Jetzt-Zeit gemeint sind. Er stellt politische Ideen vor, die in anderen Zeiten und anderen politischen Richtungen Vergleichbares bieten. Ansichten von Jacob Burckhardt bis zu Friedrich Engels und Karl Marx deuten Rahmen und Orientierung an: Die Historie vermittelt dem Individuum, einer Klasse und der Gesellschaft, wenn sie denn vorbereitet werden, wesentliche Zusammenhänge, die die Wiederholbarkeit, auf anderer Ebene, erkennen lassen. „Gerechtigkeit“ verkommt in dieser Zeit zur Floskel, die Welt wird planmäßig bedroht, weil, wie ein Philosoph im Roman äußert, „die Eliten die Dummheit fördern“. Die Unentschiedenheit und Zerrissenheit der Europäischen Union fallen dem Leser des Romans ein, sie ist das Pendant zu den politisch handlungsunfähigen katholischen Ländern Europas im 15. Jahrhundert, die sich gegen die Türken verteidigen mussten. Jede der Nationen hat aber ihre eigenen Interessen und „England ist mit sich selbst beschäftigt“ (175).

Der Roman ist der letzte einer Trilogie – vom Verlag als „Renaissance-Trilogie“ bezeichnet –, die mit „Byzanz. Roman über die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen“ und „Die Kuppel des Himmels. Roman über die Errichtung des Petersdomes“ begonnen hatte. Doch ist der Roman ein eigenständiges Werk. Der Autor dieses literarisch anspruchsvollen Romans ist unter seinem Klarnamen Klaus-Rüdiger Mai als Historiker und Biograf Luthers, Dürers, Gutenbergs und anderer ebenso bekannt geworden wie als entschiedener Verfechter und betrachtender Essayist eines verantwortlich handelnden historischen Subjekts, besonders – im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum – in der kritischen Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Christentum.

Der Roman beginnt 1453 in Konstantinopel; die europäischen Mächte müssen eine christliche Metropole, deren Merkmal die Kathedrale Hagia Sophia ist, aufgeben. Aus wirtschaftlichen Gründen hatte der Kaufmann und Konsul der Katalanen, Don Péré Julia, seinen Sitz von Barcelona nach Konstantinopel verlegt und wird nun, wie auch seine zwei ältesten Söhne, ein Opfer der Türken, die die Stadt erobern. Der jüngste Sohn Joanot aber soll auf Weisung des Sultans Mehmet ein Muslim und ein „perfekter Diener der Hohen Pforte“ werden. Aus Joanot wird Yahya ibn Catalano, ein geschätzter Übersetzer aus europäischen Sprachen ins Arabische, der schließlich aus Stambul, so heißt die Stadt mittlerweile, nach Spanien gesandt wird, um Verbündete für die Eroberung des christlichen Europas und zur Verhinderung eines Kreuzzuges zu finden. Yahya/Joanot wird zu einem Beispiel, wie Christ und Muslim durch Erziehung und Bildung problemlos austauschbar werden. In Andalusien wächst inzwischen Joanots Kindheitsgefährtin Nuria auf, die sich, nachdem ihre Familie von Mauren ermordet wurde, als Junge unter dem Namen Jorge ausgibt, zum Schwertkämpfer ausgebildet wird und in die Dienste der Infanten Alfonso und Isabel tritt; nach dem Tod Alonsos wird Isabel zur Königin von Kastilien. Die einstigen Spielgefährten, die einander versprochen wurden, stehen auf unterschiedlichen Seiten der Front zwischen Europa und den Türken, die im Roman ihre Orte findet in Sevilla, Stambul, in Kastilien, Granada, Italien und im großen Osmanischen Reich. Sultan Mehmed II. möchte das Heiligste des Christentums, den Petersdom, „zu einem Pferdestall machen“ (233). In einer abwechslungsreichen und abenteuerlichen, manchmal schwer überschaubaren Handlung werden die gegensätzlichen Bereiche konfrontiert. Daraus entstehen Folgen von Bildern, die in die Gegenwart umgesetzt werden können. Weil Joanot/Yahya nach Spanien gesandt wird, treffen die beiden Hauptgestalten wieder aufeinander. Der Leser ahnt und (hofft?), dass die Handlung die beiden nach Schwierigkeiten und fast tödlichen Verwundungen wieder zueinander führen wird. Über der Liebesgeschichte steht immer das dringliche Thema, was mit Kriegen, ihren Brutalitäten und Schrecknissen erreicht werden soll, wie Kriege durch Provokationen, Verleumdungen ausgelöst werden und wie sie zu verhindern sind.

Seine Übersetzungstätigkeit führt Joanot beim Studium überlieferter philosophischer Schriften zur Erkenntnis, „dass Gott keinen Unterschied zwischen Juden, Christen und Muslimen“ gemacht habe. Damit gelangt der Roman zu aufklärerischen Positionen, wie sie sich in Lessings „Nathan der Weise“ finden und wie sie sich in dem Roman als vernünftiges Handlungsmodell anbieten. Zusätzlich nutzt der Roman ähnliche Positionen des arabischen Dichters und Philosophen Ibn Arabi, aber auch des Humanisten Enea Silvio Piccolomini, des späteren Papstes Pius II. Daraus wird in der Personenkonstellation eine Nathan-Variation entwickelt, die ein Toleranz-Modell vorstellt und es als Vorschlag an die Gegenwart übergibt. Die beiden Hauptgestalten Joanot und Nuria sind von ähnlicher Herkunft und Bildung, können aber ihre geistigen Positionen wechseln. Joanot wird zum Mitstreiter des Sultans des Osmanischen Reiches, Nuria zur Beschützerin der Infanten von Spanien. Sie sind Gegner, repräsentieren gegnerische Parteien, suchen nach Alternativen vor allem im Angesicht unfähiger Regierungen. Am Ende werden sie, ähnlich wie in Lessings „Nathan der Weise“, aber auf Unterhaltungsebene, zum Sinnbild einer geistigen Übereinstimmung auf der Basis von Menschlichkeit und Aufklärung. Historische Gestalten, Päpste, Kardinäle, Könige, Beamte, Gelehrte wie Nikolaus von Kues, der gegen jeglichen Hass auftritt und selbst mit Gift ermordet wird, werden kritisch und unter dem Aspekt der Wirkung auf die spätere Aufklärung, also vor allem auf die Toleranz, gesehen. Deutlich wird dabei: Für das Volk und dort insbesondere für Verarmte haben die Mächtigen, stellvertretend für sie Sultan, König oder Kardinäle, durchweg nur das Verständnis als manipulierbare Masse. Wenn der Verlag in seiner Werbung von einem „fernen Spiegel unserer Epoche“ spricht, stimmt das in dem Fall.

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"Frühe Aufklärung", UZ vom 13. April 2018



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