Zynismus im Quadrat: Seine Abgeordneten in der Nationalversammlung hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von der republikanischen Front gegen den faschistischen Rassemblement national (RN) retten lassen. Seine Minister bleiben jetzt dank der wohlwollenden Duldung des RN im Amt – oder werden durch ihm genehme neue Gesichter ersetzt.
Am 5. September ernannte Macron den ehemaligen EU-Kommissar Michel Barnier (Les Républicains) zum Premierminister. Dessen Partei verfügt über 39 Sitze in der Nationalversammlung. Üblicherweise ernennt der Präsident den Wunschkandidaten der stärksten Parlamentsfraktion zum Premierminister. Hätte Macron sich an diese demokratische Gepflogenheit gehalten, hätte er Lucie Castets zur Premierministerin gemacht. Auf sie hatte sich die Nouveau Front populaire, die „Neue Volksfront“, geeinigt. Das Bündnis aus der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), La France insoumise (LFi), Les Écologistes und der einst sozialdemokratischen Parti Socialiste (PS) hatte die Parlamentswahl im Juni und Juli gewonnen – vor allem mit dem Versprechen, Macrons „Rentenreform“ zurückzunehmen. Die hatte der Präsident am Parlament vorbei dekretieren lassen, gegen den Willen von Millionen Franzosen, die monatelang gegen diesen Angriff auf ihren Lebensstandard und ihre Gesundheit demonstriert und gestreikt hatten. Die Neue Volksfront kommt auf 193 Sitze in der Nationalversammlung.
Barnier ist 73 Jahre alt. Karrierepläne habe er in seinem Alter nicht mehr, erklärte er kürzlich. Seine Befähigung, harte Sparkurse durchzudrücken, hat er längst bewiesen. Als EU-Kommissar für Regionalpolitik (1999 bis 2004) und Binnenmarkt und Dienstleistungen (2010 bis 2014) verantwortete er den Austeritätskurs mit, zu dem die EU Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Irland zwang. Barniers Programm ist klar: Den Haushalt für 2025 durchzudrücken, dessen Einsparungen vor allem auf Kosten derjenigen gehen werden, die längst nicht mehr über die Runden kommen. Steuererhöhungen für Reiche wird es mit ihm nicht geben. Anschlussfähig nach weit rechts ist Barnier auch in der Frage der Migration. Kürzlich forderte er, die Einwanderung nach Frankreich drei Jahre lang auszusetzen – und einen „Verfassungsschild“, um Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ignorieren zu können. Als Abgeordneter der Nationalversammlung hatte Barnier 1981 gegen die Entkriminalisierung von Homosexualität gestimmt.
Die elf Millionen Franzosen, die RN gewählt haben, will Barnier „respektieren“. Marine Le Pen – die den RN-Vorsitz an Jordan Bardella abgegeben hat, ohne deren Plazet in der einst von ihrem Vater gegründeten Partei aber nichts läuft – hatte Macron während dessen 51-tägiger Kandidatensuche zu verstehen gegeben, der neue Premier müsse die Abgeordneten des RN „respektieren“. Barniers Wortwahl dürfte kein Zufall sein.
Seine Partei, Les Républicains, hatte sich der republikanischen Front gegen Rechts nicht angeschlossen. Jetzt bildet sie, zusammen mit Macrons Partei „Ensemble“ und weiteren konservativen Parteien, eine unausgesprochene Allianz mit dem RN. Der Wahlgewinner Neue Volksfront ist die einzige Opposition im Parlament.
„Was in den letzten Wochen passiert ist, zeigt, dass es eine schuldhafte Kumpanei zwischen der Führung des RN und Emmanuel Macron gibt. Der RN befindet sich nicht in der Opposition, sondern in der liberalen Bewegung Macrons“, äußerte sich Barbara Gomes, Sprecherin der PCF, in der Tageszeitung „L’Humanité“.
PCF und LFi rufen dazu auf, den Kampf gegen Macron und dessen neue Regierung auf die Straße zu verlagern. Erster Aktionstag war der 7. September. Für diesen Tag mobilisierten Jugendverbände ihre Mitglieder zu fast 150 Demonstrationen und Kundgebungen in ganz Frankreich. Bis auf PS riefen alle Parteien der Neuen Volksfront ihre Mitglieder auf, sich an den Aktionen zu beteiligen. Mehrere große Gewerkschaftsverbände, darunter die CGT, rufen zum Generalstreik am 1. Oktober auf. An diesem Tag beginnen die Haushaltsverhandlungen in der Nationalversammlung.