20 Jahre ver.di: In jedem Tarifkampf steht die Frage der Organisierung

Froh, in ver.di zu sein

Am 19. März feiert die Gewerkschaft ver.di ihren 20. Geburtstag. 2001 schlossen sich die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG), die Deutsche Postgewerkschaft (DPG), die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und die Industriegewerkschaft Medien – Druck und Papier, Publizistik und Kunst (IG Medien) zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zusammen.

Olaf Harms war bis zur Gründung von ver.di in der HBV aktiv, heute ist er ehrenamtlicher Vorsitzender von ver.di Hamburg und vertritt den Landesbezirk Hamburg im ver.di-Gewerkschaftsrat. Wir haben ihn zur ver.di-Gründung befragt, zur Mitgliederentwicklung und zur inhaltlichen Ausrichtung seiner Gewerkschaft.

UZ: Was verbindest du mit der Gründung von ver.di?

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Olaf Harms leitet die Kommission Betriebs- und Gewerkschaftspolitik beim Parteivorstand der DKP.

Olaf Harms: Einen Verlust, aber auch Hoffnung, dass eine neue, stärkere Gewerkschaft entsteht. Die Gründung habe ich allerdings als einen Prozess gesehen, der hauptsächlich unter den Hauptamtlichen ausgehandelt wurde.

UZ: Es gab damals Befürchtungen, dass ver.di inhaltlich nicht in der Lage sein wird, klare Positionen zu entwickeln, weil diese unter fünf sehr unterschiedlichen Gewerkschaften ausgehandelt werden mussten. Hat sich diese Befürchtung bestätigt?

Olaf Harms: Nein, im Gegenteil. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit die ÖTV die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn unterstützt hätte. ver.di hat das getan.

Die ver.di-Gründung war erst einmal ein organisatorischer Zusammenschluss – man hat aus fünf Gewerkschaften eine gemacht. Mit der ver.di-Gründung wurde versucht, die Gewerkschaften außerhalb der materiellen Produktion zusammenzufassen. Eigentlich hätten es sechs sein sollen, die GEW ist dann aber ausgestiegen. Von dieser Zusammenführung der fünf Gewerkschaften hat man sich eine größere Kampfkraft versprochen.

Die inhaltliche Entwicklung hat dann erst in den Folgejahren stattgefunden.

UZ: Aber was heißt es für ver.di, mehr Mitglieder und mehr Einfluss zu haben? Das scheint ja nicht zu bedeuten, dass die gesamte Organisation geschlossen in Tarifkämpfe geht. Da kämpft doch jede Branche, jeder Bereich für sich allein.

Olaf Harms: Und das ist auch bis heute so geblieben. Tarifauseinandersetzungen werden jeweils in den dreizehn ver.di-Fachbereichen geführt. Dass diese Fachbereiche sich bei Tarifkämpfen gegenseitig aktiv unterstützt haben, ist nur ganz selten gelungen.

Diese Unterstützung gab es unter den fünf Gewerkschaften früher nicht, und in der Regel auch heute nicht unter den Fachbereichen. ver.di hat aber den Vorteil, dass entsprechende Mittel über die Bundesorganisation für strategische Arbeitskämpfe bereitgestellt werden können. Das ist zum Beispiel beim Kampf um einen Tarifvertrag bei Amazon der Fall. Die HBV hätte eine solche, sich über Jahre ziehende Auseinandersetzung nicht durchgehalten. Dafür war sie zu klein.

UZ: ver.di hatte bei der Gründung 2001 knapp drei Millionen Mitglieder. Jetzt sind es noch unter zwei Millionen. Unter dem Titel „Perspektive ver.di wächst“ sind Strukturveränderungen vorgesehen, die „nachhaltiges Mitgliederwachstum“ ermöglichen soll. Wie soll das vonstatten gehen?

Olaf Harms: Der Kern von „ver.di wächst“ ist erst einmal, dass die Ressourcen, die wir bei ver.di haben, zielgerichteter eingesetzt werden können. Das betrifft vor allem die Aufgaben der Hauptamtlichen. Die Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre sollen sich auf die Betreuung und Unterstützung der Ehrenamtlichen vor Ort konzentrieren können, auf die kollektive Betriebs- und Tarifarbeit. Bisher hatten sie Aufgaben bei der Mitgliederverwaltung, von denen sie entlastet werden. Deshalb wurden inzwischen auch Service-Center eingerichtet. Damit sollen Ressourcen nicht nur verschoben, sondern Arbeitsprozesse hin zu mehr Effizienz verändert werden. Dieser Prozess ist noch nicht bundesweit abgeschlossen und es wird auszuwerten sein, wie viel Ressourcen tatsächlich für die Tarif- und Betriebsarbeit freigeworden sind.

UZ: Aber ist damit der Mitgliederschwund aufzuhalten?

Olaf Harms: Nein, das ist ja nicht nur eine Frage der hauptamtlichen Ressourcen. Es gibt viele Faktoren für den Mitgliederschwund. Dazu trägt auch bei, dass Menschen insgesamt weniger bereit sind, sich dauerhaft zu organisieren und zu engagieren, um für ihre Interessen zu kämpfen. Trotzdem kann ver.di jedes Jahr etwa 200.000 Menschen zum Eintritt bewegen. Das reicht nur leider nicht, um den Status quo zu halten.

UZ: ver.di gewinnt vor allem bei Tarifkonflikten Mitglieder hinzu. Wäre nicht die logische Schlussfolgerung, keine Tarifverträge abzuschließen, die Laufzeiten von zwei Jahren oder mehr haben?

Olaf Harms: Das stimmt, wir gewinnen in den Tarifrunden Mitglieder hinzu, und zwar unabhängig davon, ob es um Fragen wie Entlastung geht oder um Lohnforderungen.

Ich persönlich bin dagegen, dass in Bereichen, in denen wir kampffähig sind, lange Laufzeiten für Tarifverträge vereinbart werden. Wir Kommunistinnen und Kommunisten sagen in der Auswertung eines Tarifergebnisses häufig, dass die Laufzeit zu lang ist. Doch wenn wir uns dann die Zustimmung zu so einem Abschluss unter den Mitgliedern anschauen und die liegt bei über 70 oder 80 Prozent, dann ist das vor allem ein Zeichen dafür, dass für diese Frage kaum Bewusstsein vorhanden ist.

UZ: Und wie schafft man Bewusstsein dafür?

Olaf Harms: Voraussetzung ist, dass mehr Menschen in die Tarifverhandlungen einbezogen werden. Derzeit ist es so, dass jede Branche die Mitglieder der Tarifkommission wählt. Diese entscheidet dann über einen Abschluss – je nach Stand der Verhandlungen. Es folgt dann eine Rückkopplung durch Urabstimmung, das ist aber auch nicht in allen Branchen so.

Meines Erachtens wäre es besser, wenn die Tarifkommission sich vor dem Abschluss mit den Streikbetrieben rückkoppelt. Das würde ihre Verhandlungsposition stärken.

Eine positive Erfahrung in diesem Zusammenhang waren die Streikkonferenzen bei der Tarifrunde der Sozial- und Erziehungsdienste 2015, die über den Abschluss beraten und über das weitere Vorgehen mitentschieden haben. Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir auch zukünftig das Mittel der Streikkonferenz nutzen, weil es die Einbindung der Kolleginnen und Kollegen vor Ort bedeutet.

UZ: Du hast im Zusammenhang mit der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie kritisiert, dass in den Gewerkschaften nicht über Alternativen zum Kapitalismus nachgedacht wird. Was ist das Problem daran, wenn diese Diskussion nicht geführt wird?

Olaf Harms: Das stimmt, weder der DGB noch seine Einzelgewerkschaften führen diese Diskussion und schieben sie auch nicht an, obwohl sie notwendig ist. Wir brauchen eine Alternative zu diesem System. Da ist mir auch erst einmal egal, über welche Alternativen wir diskutieren, auch wenn das jetzt komisch klingen mag. Aber wenn wir in diesen, meines Erachtens notwendigen Diskussionsprozess einsteigen, dann werden wir meines Erachtens darüber zum Sozialismus als Alternative kommen – oder zumindest auf Kernelemente des Sozialismus wie die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln.

Stattdessen bleiben wir innerhalb des Kapitalismus stecken. Das betrifft zum Beispiel die Diskussion um die Transformation der Autoindustrie in der IG Metall. Das betrifft auch ver.di, meine Gewerkschaft hat allerdings aufgrund der Mitgliedschaft durchaus andere, progressivere Sichtweisen, zum Beispiel in der Sozialpolitik. Wir sehen den Einzelhändler, die Pflegerin, den Erzieher und positionieren uns entsprechend. Die IG Metall sieht den Metallfacharbeiter in der Stammbelegschaft, um das mal zuzuspitzen. Deshalb bin eigentlich ganz froh, in ver.di zu sein.

Wir haben doch in jeder Tarifrunde das gleiche Problem. Wir müssen uns als Beschäftigte bewusst machen, dass wir eine Einheit sind, die gegen die Kapitalseite steht und die sich nur dann durchsetzen kann, wenn sie in die Aktion geht. Die Frage ist doch, wie der Mehrwert verteilt wird und wie viel diejenigen vom Kuchen abkriegen, die ihn erschaffen haben. Das findet Jahr für Jahr statt.

Meine Gewerkschaft streikt in jeder Woche des Jahres. In jedem dieser Tarifkämpfe steht die Frage nach der Organisierung. Ohne die Gewerkschaft wirst du dich nicht gegen die Kapitalseite durchsetzen. Und bei dieser Frage dann stehenzubleiben und nicht mal über eine Zukunft jenseits des Kapitalismus nachzudenken, das schwächt uns. Deshalb ist unsere Aufgabe als Kommunistinnen und Kommunisten, eine solche Diskussion einzufordern.

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"Froh, in ver.di zu sein", UZ vom 19. März 2021



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