Zur Zukunft „nach Corona“

Friedliche Revolution

So viel Nachbarschaftshilfe war selten, so zupackenden Staat gab es seit dem Faschismus nicht, so viel Geld war so plötzlich noch nie gedruckt worden, Milliarden Euro Hilfe an die Großen und immerhin Hunderter an die Kleinen wurden noch nie versprochen. So friedfertig wurden Gebote und Verbote, Quarantäne und Notstand in der Republik noch nicht befolgt, so kollektive Vernunft war selten – geht doch. Und sieht gut aus. Vielen scheint es, als machte die Corona-Attacke selbst die notwendige Revolution – gesünderes Klima, gebrauchsfähigen Konsum, freie Autobahnen und Stadtstraßen, weniger Hektik und Stress, mehr Solidarität.

Philosophen und Dichter, Wissenschaftler und Ärzte, Chefredakteure und Präsidenten reden und schreiben sich jetzt Kopf und Seele frei für einen Weg in eine bessere Zukunft „nach Corona“: Alles wird gut, wir werden endlich in einem Boot sitzen, alle komfortabel und sehr solidarisch, eine neue Volksgemeinschaft ist in Sicht. Beim Lesen und Hören der täglich veröffentlichten Meinungen fällt auf, dass der redenden und schreibenden Elite Worte wie Eigentum und Macht, Ausbeutung und Unterdrückung, Klassen und Klassenkampf jetzt vollends verloren gegangen sind. Sie beschreiben die Zukunft als Weiterführen der Vergangenheit – ganz ohne Revolution.

Die Corona-Pandemie verändert qualitativ nichts an den Produktionsverhältnissen, sondern stabilisiert sie – die Seuche wird zum Anlass genommen, den Staat weiter auszuplündern, soziale Widersprüche „sozial verträglich“ zu vertiefen, Eingriffe in Grundrechte vorzunehmen, Notstand zu üben und die Verfassung dafür zu ändern. Das passt ins System, dessen Ziel ja nicht Solidarität und Friedfertigkeit ist, sondern Kampf, Konkurrenz und alle Formen von Krieg. Dieses Prinzip zu ändern – dafür braucht es allerdings Revolution. Es kommt darauf an, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

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"Friedliche Revolution", UZ vom 17. April 2020



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