Wir begehen in diesem Jahr den 50. Jahrestag der Eröffnung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki am 3. Juli 1973. Eigentlich eine Gelegenheit für Reflexion. Es stellt sich die Frage, warum Regierungen, Medien, Stiftungen und NGOs nichts dazu sagen wollen. Wir dokumentieren in redaktioneller Bearbeitung eine Rede Anton Latzos, die er auf dem Treffen des deutschen Friedensrats Ende September in Berlin hielt.
Die Bundesregierung verkündete kurz nach ihrem Amtsantritt die „Zeitenwende“. Kürzlich verabschiedete sie die erste außenpolitische Strategie der BRD. Aber es herrscht Fehlanzeige, wenn es um die Erfahrungen aus dem KSZE-Prozess geht.
Meinungsmacher sprechen dafür über den Westfälischen Frieden von 1648 oder den Wiener Kongress von 1815 – Ereignisse, bei denen es darum ging, überkommene Verhältnisse zu konservieren. Ist vielleicht auch bei den Apologeten kapitalistischer Verhältnisse die Erkenntnis gereift, dass sie heute mit einer ähnlichen Situation in Bezug auf den Kapitalismus konfrontiert sind? Oder wollen sie mit „Wissenschaft“ einfach ablenken? Warum sonst zeigt man an den historisch neuesten Erfahrungen – den Erfahrungen des KSZE-Prozesses – so wenig oder gar kein Interesse?
Sind die entlarvende Wirkung des Verlaufs und der Ergebnisse des KSZE-Prozesses und deren Analyse so stark, dass die Herrschenden sie fürchten müssen? Oder besteht die Gefahr, dass die Menschen – wenn sie den tatsächlichen Verlauf des KSZE-Prozesses zur Kenntnis nehmen – auch die Hintergründe der aktuellen Situation in Europa und in der Welt realistischer betrachten, Ursache und Wirkung besser einordnen können?
Oder geht es einfach um Verdummung der Menschen? Es wurde immer behauptet, dass die Existenz von entgegengesetzten Militärblöcken die Ursache von Spannungen und Kriegsgefahr sei. Nach 1990 hat sich die Warschauer Vertragsorganisation aufgelöst. In Europa ist die NATO übergeblieben. Der Frieden wurde aber nicht sicherer – im Gegenteil, er war weg.
Die KSZE-Ergebnisse wurden durch die Pariser Charta vom 21. November 1990 offiziell annulliert, indem man einfach das, was nicht passte, wegließ oder verfälschte. Von der Helsinki-Schlussakte ist so gut wie nichts übriggeblieben.
Folgt man der Diktion der offiziellen und offiziösen Erklärungen, könnte man annehmen, die KSZE-Konferenz wäre mit der Charta von Paris beendet worden. Es wurde formuliert: „Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden.“
Wieso nur „künftig“? Beruhten denn Helsinki und seine Ergebnisse nicht auf Achtung? Warum wird nichts zum Prinzipienkatalog der KSZE-Akte gesagt? Wo bleibt das in Helsinki Vereinbarte und Praktizierte? Hat man vielleicht Angst, dass – wenn man die Prinzipien behandelt – dabei deutlich wird, dass die „Regime-Change“-Maßnahmen in Osteuropa (ich nenne sie konterrevolutionär) gegen Buchstaben und Geist der Schlussakte der Helsinki-Konferenz durchgesetzt wurden?
Fest steht: Die USA und die NATO-Mächte fühlten sich nach der Niederlage des Sozialismus in Europa und der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation nicht mehr an die während des Helsinki-Prozesses erarbeiteten Prinzipien gebunden. Deshalb konnte mit der Aggression gegen Jugoslawien der Krieg nach Europa zurückgebracht werden. War das die oben zitierte „Achtung und Zusammenarbeit“?
Einzige Weltmacht
Die USA übernahmen die alleinige Führung. Neuordnungskriege in verschiedenen Teilen der Welt wurden Wirklichkeit. Dabei setzten sie die NATO als Hauptinstrument ein. Der Konkurrenzkampf zwischen den imperialistischen Mächten spitzte sich zu. Russophobie wurde zur ideologischen Grundlage der Außenpolitik der NATO- und EU-Mächte.
Die ideologische Auseinandersetzung wurde ausgeweitet. Die „Theoretiker“ der Konvergenz der Gesellschaftssysteme bemühten sich, den Menschen einzureden, dass der Kapitalismus seinen Ausbeutungscharakter überwunden habe beziehungsweise überwinde. Das staatsmonopolistische Herrschaftssystem wurde als „pluralistische Demokratie“ verklärt, in der es keine Klassen und keinen Kampf zwischen ihnen mehr gebe, sondern nur noch das Ringen der Interessengruppen um den Anteil am Sozialprodukt. Die Klassen wurden in „soziale Gruppen“ umgedeutet, aus der Klassenstruktur wurde die „soziale Gliederung“.
So wurde die Welt, in der Frieden und Sicherheit durchgesetzt werden sollte, in eine „klassenlose“ Welt umgedeutet, in der Frieden, Sicherheit und – nach dem Muster des US-amerikanischen „Way of Life“ – Wohlstand vom Hegemon USA gewährleistet werden. Der Anspruch der KSZE als Regulator der „Ost-West“-Auseinandersetzung (wie man es jetzt zu nennen pflegt) wurde damit beendet. Die „Chaos“-Theorie wurde in den USA erfunden und über Stiftungen und andere Strukturen in der Welt verbreitet und praktiziert.
Das war und ist die „Friedenspolitik“ à la NATO. Sie hat die Ergebnisse des Helsinki-Prozesses abgeschafft. Sie brachte „friedliche“ Bedingungen, aber nicht für die Völker und zwischen den Staaten, sondern für die Verwirklichung der Interessen des Kapitals. Sie schuf günstige Bedingungen für dessen Expansion sowie zur neokolonialen Ausbeutung der Völker. Es durfte keine Macht geben, die die Hegemonie der USA in Europa und weltweit infrage stellt.
Umfangreicher Rollback
Seit Ende der 1980er Jahre wurden diese Verhältnisse bestimmend für die Beziehungen zwischen den Staaten in Europa und darüber hinaus. Deshalb will man, dass die KSZE aus der Geschichte gestrichen bleibt.
Die Eliminierung der Ereignisse und Erfahrungen, die dem Frieden, der Sicherheit und der Zusammenarbeit dienten, und die Implementierung fortschrittsfeindlicher, russo- beziehungsweise sinophober Positionen nannte und nennt man „entideologisierte Politik“ – in der BRD sagt man auch „Sachpolitik“. Auch Michail Gorbatschow schrieb in seinem Buch „Perestroika“: „Es ist wichtig, über ideologische Unterschiede erhaben zu sein.“ Notwendig sei „eine neue Art des politischen Denkens“, das „der Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit“ entspringt.
Weil der Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus eliminiert wurde, war es leicht, sich zu einer friedlichen Koexistenz zu bekennen, die „einer Entideologisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen“, einem „politischen Herangehen an das Problem der Sicherheit, für Zusammenarbeit“ folgt. Die Ergebnisse für die Sowjetunion, ihre Verbündeten und für den Frieden sind bekannt. Das sind Fakten, die auch heute berücksichtigt werden müssen.
Für den Frieden
Eines stimmt: Es geht um „Sachpolitik“, um die Sache! Friedenspolitik muss dem Rechnung tragen, national und international! Wir brauchen auch national eine parteienübergreifende Zusammenarbeit, die die Friedenskräfte zusammenführt.
Und: Es ist gut und notwendig, wenn die Friedensbewegung auf den Frieden gefährdende Ereignisse reagiert. Es ist aber unzureichend, auf einzelne Ereignisse zu reagieren, ohne sie im Zusammenhang mit den entscheidenden historischen Prozessen zu betrachten. Die Friedensbewegung muss Prozesse und Probleme grundsätzlich analysieren und den Massen helfen, die tieferen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen. Wie wäre es, wenn beim Friedensrat oder anderswo ein Gremium gebildet wird, das Diskussionen der Interessierten regelmäßig organisiert, um auch über strittige Fragen laufend und gemeinsam zu reflektieren? Das könnte sich positiv sowohl auf die Reaktionsfähigkeit der antiimperialistischen Kräfte als auch auf die Entwicklung des Bündnisses der Friedensfreunde und seine Festigkeit auswirken.
Verhandlungsprozesse
Der KSZE-Prozess mit seinen positiven Ergebnissen hat die Richtigkeit des ideologischen Kampfes gezeigt. Die Unvereinbarkeit der beiden Systeme und Ideologien war auch damals immer mit am Verhandlungstisch. Trotzdem war es möglich, Ergebnisse zu erzielen, die im Interesse aller beteiligten Staaten und Völker waren. Dazu gehört, dass zum Beispiel die Nachkriegsperiode zu einem gewissen Abschluss gebracht und die Lage in Mitteleuropa (Oder-Neiße-Grenze, DDR, Münchener Abkommen, Westberlin-Frage) geklärt wurde – und das geschah in Europa, das immer Hauptfeld der Systemauseinandersetzung war.
Die Lage änderte sich erst, als Gorbatschow die Führung der So-wjetunion übernommen hatte und die genannten Positionen durchgesetzt wurden. Jetzt ging die Sowjetunion auf Forderungen der NATO-Mächte ein, die sie bislang zurückgewiesen hatte. Sie zwang ihre Verbündeten, sich diesem Kurs anzuschließen.
Das Zustandekommen und der Verlauf der KSZE erbrachte den Beweis, dass es bei gutem Willen aller Beteiligten möglich war, einen tragbaren Kompromiss zu schließen und Bedingungen zu schaffen, die Sicherheit boten und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil ermöglichten.
Die Berücksichtigung des Erfahrungsschatzes des KSZE-Prozesses ist auch im Zusammenhang mit dem weiteren Ringen um eine neue Weltordnung und für die dazu notwendige konzeptionelle und praktische Arbeit unerlässlich. Dies betrifft vor allem die Fragen der Sicherheit der Staaten und Völker, die Wirksamkeit des Völkerrechts, die Erstellung eines verbindlichen Prinzipienkatalogs und die Stärkung der UNO.
Die KSZE hat wichtige Grundlagen in allen diesen Fragen geschaffen. Es gilt, daran anzuknüpfen, sie zu erweitern und zu präzisieren und vor allem die Durchsetzung und Einhaltung ihrer Ergebnisse zu gewährleisten. Dabei geht es um ein System von eindeutigen Verpflichtungen und konkreten Maßnahmen, die in den zwischenstaatlichen Beziehungen die Androhung und Anwendung von Gewalt verhindern. Das umfasst ein Sicherheitssystem, Verpflichtungen der Teilnehmerstaaten, Maßnahmen, die den Verzicht auf Anwendung und Androhung von Gewalt absichern, sowie Garantien, die den Schutz der betroffenen Staaten gegen jede Art von Aggression gewährleisten.
Beispielgebend
Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist ein solcher Zustand schwer vorstellbar. Aber die KSZE hat zumindest den Weg in diese Richtung beschritten und erste praktische Erfahrungen gesammelt, die nicht der Vergessenheit überlassen werden dürfen.
Der Verlauf des KSZE-Prozesses hat auch gezeigt, dass allein rechtliche Regelungen nicht ausreichend sind für die Gewährleistung der Sicherheit der Staaten. Es bedarf konkreter Maßnahmen, die die Achtung der übernommenen Verpflichtungen gewährleisten. Wie die Prinzipien, müssen auch die Maßnahmen universellen Charakter haben und das gesamte Feld der zwischenstaatlichen Beziehungen in politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher, militärischer und kultureller Hinsicht umfassen.
Neben zahlreichen anderen Aspekten möchte ich die Bedeutung der Erfahrungen unterstreichen, die von der KSZE bei der Erarbeitung der Normen und Verfahren für die multilaterale Verhandlungsführung und Beschlussfassung gesammelt wurden. Dazu gehört das Recht jedes Staates, an allen Verhandlungen und Beschlussfassungen gleichberechtigt teilzunehmen. Das schließt ein, dass die Verhandlungen und Aktionen außerhalb der Militärbündnisse stattfinden. Die Teilnahme der Staaten an den Arbeiten auf der Grundlage der souveränen Gleichheit hat die Anwendung des Konsensus zur Folge.
Die Entwicklung des BRICS-Verbunds zeigt, ebenso wie der KSZE-Prozess, dass auch diese globale Struktur nicht durch einen einmaligen Akt geschaffen werden kann, sondern als Prozess gesehen werden muss. Er ist nicht das Ergebnis einer subjektiven Eingebung, sondern ergibt sich aus der Wirkung, aus dem Druck von Notwendigkeiten.
Wankender Hegemon
Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass die USA ihr ganzes Potenzial und ihre Politik darauf ausrichten, das Ende der selbst konzipierten Hegemonie nach dem Motto zu vereiteln versuchen, dass alles so verändert werden muss, damit sich nichts ändert. Das bezieht sich auf die Eingrenzung Chinas und Russlands und die Beschränkung der Entwicklung der eigenen Bündnispartner, um in der Konkurrenz – nicht in der Zusammenarbeit – Sieger zu bleiben.
Das findet unter Bedingungen statt, unter denen die neuen Mächte in Asien, Afrika und Lateinamerika nicht mehr bedingungslos allen Vorgaben des Hegemons folgen. Die Aussage, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, gewinnt unter solchen Bedingungen neue Geltung. Man kann aber auch feststellen: Die Bedingungen für die Politik des Friedens, der Sicherheit und der gleichberechtigten Zusammenarbeit verändern sich. Der Kampf wird aber nicht einfacher.
Abschließend ist festzustellen: Die Friedensbewegung und die BRICS-Staaten müssen sich gleichermaßen die Lektion des KSZE-Prozesses zu eigen machen. Der KSZE-Prozess kann durch den BRICS-Verbund revitalisiert werden!
Die Friedensbewegung wird nur so erfolgreich sein, wie sie auch diese Erfahrungen achtet.
Auf Initiative der Staaten des Warschauer Vertrages trafen sich am 3. Juli 1973 Außenminister von 33 europäischen Staaten sowie der USA und Kanadas zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Die Verhandlungen mündeten in der Schlussakte von Helsinki. Darin verpflichten sich die Staaten auf Grundprinzipien, wie zur Achtung der nationalen Souveränität, der Unverletzlichkeit der Grenzen, der friedlichen Regelung von Konflikten, zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sowie zur Geltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Die Schlussakte stellt einen großen Erfolg des Kampfes um Frieden der sozialistischen Staaten dar und spiegelt das damalige internationale Kräfteverhältnis wider.