Schulen, Universitäten und Krankenhäuser sollen kriegstüchtig werden

Frieden? Widerlich!

Kolumne

Ich erinnere mich an Zeiten, da traten Politiker nicht nur wegen schlecht kopierter Doktorarbeiten zurück, sondern auch, weil sie zu offen für Krieg zur Durchsetzung deutscher Interessen warben. Horst Köhler etwa. Er nahm als Bundespräsident 2010 seinen Hut, weil er in einem Hörfunkinterview zu Afghanistan darum bat zu verstehen, „dass ein Land unserer Größe mit unserer Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall, auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“. Diese Aussage löste vor knapp 15 Jahren in einem Land mit konstanten Ablehnungsraten deutscher Militärauslandseinsätze von über 60 Prozent so viel Entrüstung aus, dass das formelle Staatsoberhaupt zurücktreten musste.

Dieser Zustand konnte überwunden werden. Im Jahr 2024 lernen wir auf tagesschau.de: „Die deutsche Marine beteiligt sich im Roten Meer am Schutz der zivilen Handelsschifffahrt. Nun schoss die Fregatte ‚Hessen‘ erstmals scharf (…). Der Seeweg durch das Rote Meer und den Suezkanal ist eine der wichtigsten Handelsrouten weltweit.“ Keine 15 Jahre ist es auch her, dass Politikerinnen und Politiker das Wort „Krieg“ in der öffentlichen Debatte tunlichst vermieden. Heute kann das Kriegsgeheul gar nicht laut und schrill genug sein. Der Begriff, den es zu vermeiden gilt, weil er irgendwie anrüchig und potenziell karrierebedrohend ist, lautet „Frieden“. So geschehen nicht nur, aber auch, im Bundestag während der Debatte zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Da verteidigte SPD-Fraktionschef Mützenich das Kanzler-Nein zur Taurus-Lieferung, nach minutenlanger Beteuerung des Kriegswillens und der grundsätzlichen SPD-Kampfbereitschaft. Vorsichtig fragte er: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“

Das Teufelswort „Frieden“ vermieden zu haben brachte ihm keine mildernden Umstände ein. Die Kriegsmeute aus Union, FDP, AfD und Grünen fiel unter schrillem „Verrat-an-der Sache“-Geschrei unisono über ihn her. Der ukrainische Scharfmacher und Ex-Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk bezeichnete Mützenich gar als „widerlichsten deutschen Politiker“.

1209 Kolumne Tatjana - Frieden? Widerlich! - Israel-Lobby, Kriegstüchtigkeit, Militarisierung, Militärstrategie, Rolf Mützenich, Russlandpolitik, Völkermord - Positionen
Tatjana Sambale

Wir leben in Zeiten, in denen die Forderung nach Frieden in Palästina oder der Ukraine wahlweise antisemitisch, widerlich oder beides ist. Wir leben in Zeiten, in denen je nach Interessenlage unter „Völkermord“ mal der Austausch ukrainischsprachiger Schulbücher durch russischsprachige und mal die Wahrnehmung des Rechts auf „Selbstverteidigung“ durch die rechts-faschistoide israelische Regierung zu verstehen ist. Wir leben in Zeiten, in denen Kinder mit Hilfe animierter Marschflugkörper zur Kriegstüchtigkeit erzogen werden sollen und die Bundeswehr an Schulen zur Normalität wird. Der Vorsitzende des Lehrerverbandes assistierte der FDP-Bundesbildungsministerin bei ihrem Aufruf, an den Schulen ein „unverkrampftes Verhältnis zur Bundeswehr“ zu entwickeln, mehr Rüstungsforschung an den Hochschulen zuzulassen und endlich diese nervigen Zivilklauseln zu überwinden.

Damit noch nicht genug: Zeitenwende heißt dank Minister Lauterbach für die Pflegekräfte im Gesundheitswesen nun die Vorbereitung auf militärischen Zwangsdienst und Massenversorgung von Kriegsverletzten. Es ist ja auch viel leichter, mit all diesen nervigen Streiks umzugehen, wenn erst mal Kriegsrecht herrscht. All die Klagen über Personalmangel, strukturelle Unterversorgung und Mangelfinanzierung im Gesundheitsbereich sollen schnell vergessen werden, jetzt, wo der Russe ernst macht. Diese Zeitenwende ist für Beschäftigte einfach widerlich.

Unsere neue UZ-Kolumnistin ist Altenpflegefachkraft und Kandidatin der DKP zu den EU-Wahlen.

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"Frieden? Widerlich!", UZ vom 22. März 2024



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