Die Koalitionsvereinbarung und die ersten außenpolitischen Schritte der neuen Regierung zeigen, dass der Wille zum Erwerb und zur Ausübung von immer mehr internationaler Macht ihre Positionen und Handlungen bestimmen wird. Dies muss in einer Umgebung erfolgen, die viel intensiver von Konkurrenz gekennzeichnet ist, in der sich die Kräfteverhältnisse schneller verändern und Machtgleichgewicht an Bedeutung gewinnt. Damit wird nicht nur die Berechenbarkeit der Akteure und der Verhältnisse schwieriger, auch das Gefahrenpotenzial nimmt zu.
„Gestaltungsmacht“
Die Aussagen der Koalitionsvereinbarung folgen einem zu den Wahlen veröffentlichten Strategiepapier der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP), in dem gefordert wird, dass die Bundesregierung die Wende zu einer offensiveren, risikobereiten Außenpolitik einleiten müsse. Man rechnet damit, dass dies unter Bedingungen geschehen wird, unter denen „die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen“. Berlin müsse künftig bereit sein, „auch unter großer Unsicherheit Entscheidungen zu fällen“. Das sind Vorstellungen, die darauf hinweisen, wie man gedenkt, „mehr weltpolitische Verantwortung zu übernehmen“ und „das Spektrum militärischer Mittel auszuschöpfen“, um die Bundesrepublik zur „Gestaltungsmacht“ zu machen. Das ist eine Hauptrichtung der künftigen deutschen Außenpolitik.
Gleichzeitig dürfte diese von Bemühungen gekennzeichnet sein, die Maßnahmen vieler Staaten – auch innerhalb der EU – zu neutralisieren, die ihre Volkswirtschaft und auch ihr politisches System vor ausländischer Abhängigkeit und Bevormundung schützen und die externen Einflussfaktoren minimieren wollen. Eine solche Politik der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder – insbesondere die Verhängung von Sanktionen – ist mit großen Schäden auch für die deutsche Wirtschaft verbunden, da diese, wie eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) feststellte, angesichts ihrer Exportfixierung wie kaum eine andere auf einen „freien“ Welthandel, niedrige Zölle und internationale Kooperation angewiesen ist. Laut IW belief sich zum Beispiel die sogenannte Außenhandelsquote der BRD 2019 auf 88 Prozent, international ein absoluter Spitzenwert. Die Außenhandelsquoten der anderen OSZE-Staaten bezifferten sich im Schnitt auf 59 Prozent. Großbritannien und Frankreich hatten eine Quote von 64 beziehungsweise 65 Prozent, bei Japan waren es nur 35 und im Falle der USA sogar nur 26 Prozent. Die BRD ist also auf Dauer am stärksten betroffen – anwachsende Widersprüche bei nachhaltig wirksam werdenden außenwirtschaftlichen Interessen stehen vor der Tür.
„Systemwettbewerb“
In diesem Kontext fordern die genannten Leitlinien der DGAP, Deutschland müsse „den Charakter seiner Außenpolitik verändern“ – „weg von einer reaktiven Ad-hoc-Politik, die darauf bedacht ist, Schaden einzugrenzen; hin zu einer proaktiven Politik, die systematisch und begründet gestaltet wird und Chancen nutzt“. Ausgangspunkt ist dabei die „globale Verantwortung“ Deutschlands als „viertgrößte Volkswirtschaft der Welt“.
Wie schon bisher sieht man im „transatlantischen Bündnis“, also in den Beziehungen zu den USA, den „zentralen Pfeiler“ und betrachtet die NATO als „unverzichtbare(n) Teil unserer Sicherheit“. Damit ist der Platz der BRD in den internationalen Beziehungen eindeutig bestimmt. Nicht Frieden und gleichberechtigte Zusammenarbeit souveräner Staaten auf der Grundlage des Völkerrechts stehen im Mittelpunkt. Die Regierung will ihre Ziele im Bündnis mit den „demokratischen Partnern“, zu denen ja bekanntlich Russland und die VR China nicht gezählt werden, verwirklichen. Das lässt mehr Konfrontation als Kooperation erwarten.
Dafür sollen nicht nur die politischen und militärischen Potenziale des Staates eingesetzt werden. Man will auch die „zivilgesellschaftlichen Akteure stärken“, das heißt auch illegale Mittel und nicht kontrollierbare Kräfte einsetzen und eine Politik der erweiterten Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder verfolgen.
Da es dabei in erster Linie „um Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten“ geht, müsse „eine strategische Solidarität mit unseren demokratischen Partnern“ hergestellt beziehungsweise gepflegt werden. Wir erleben also eine Fort- und Festschreibung der Einteilung in „Gut und Böse“. Damit kann man nicht nur wirtschaftliche Sanktionen legitimieren, sondern ebenso subversive Aktivitäten und auch militärische Maßnahmen, wie sie zum Beispiel im Schwarzen Meer, auf dem Balkan und sogar in Südostasien durchgeführt werden.
Abschreckungsstrategie
Das erklärt auch, warum Fragen der Abrüstung, des Abzugs US-amerikanischer Atomwaffen aus Deutschland und Europa, der kollektiven Sicherheit sowie der Auswertung des Helsinki-Prozesses im Koalitionsvertrag und damit auch in der Außenpolitik der kommenden Jahre nicht entsprechend der ihnen zukommenden Bedeutung berücksichtigt werden. Stattdessen wird mit der beabsichtigten Anschaffung bewaffneter Drohnen sowie atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge als Ersatz für die Bundeswehr-Tornados die Forderung nach nuklearer Teilhabe zementiert. Damit soll offensichtlich die Wirkung der Abschreckungsstrategie potenziert werden.
Dazu soll auch die „strategische Souveränität der Europäischen Union“ erhöht werden, „indem wir unsere Außen-, Sicherheits-, Handels- und Entwicklungspolitik wertebasiert und als Basis gemeinsamer Interessen ausrichten“. Die Einstimmigkeitsklausel soll beseitigt und durch „qualifizierte Mehrheiten“ ersetzt werden. Im Klartext heißt das: Die eigene Dominanz soll ausgenutzt werden, um auf die anderen Mitglieder Druck auszuüben, damit diese eine Politik ermöglichen, die den deutschen, aber nicht unbedingt auch ihren nationalen Interessen entspricht.
Mitteleuropakonzeption
Die Außenpolitik dieser Regierung wird – wie auch die der Vorgängerregierungen – vom ideologischen und theoretischen Konzept eines „deutschen Mitteleuropa“ inspiriert, das schon Ende des 19. Jahrhunderts vom aufkommenden Imperialismus in Deutschland entwickelt wurde und verschiedene Etappen aufweist. Von der preußischen Theorie der „mitteleuropäischen Großmacht“ führt eine gerade Linie zur Rechtfertigung expansionistischer Außenpolitik bei Friedrich Naumann über die faschistische Großraumpolitik bis zur Europaideologie eines Franz Josef Strauß und zur Ostpolitik der Bundesrepublik. Nach Annahme der Notstandsgesetze hielt Strauß im Juni 1968 die Zeit für gekommen, „endlich den Großraum Europa zu schaffen“, der zum Hegemonieraum Deutschlands werden sollte. Zu seiner Durchsetzung sollte eine neue „Verteilung der Kräfte“ in Europa erfolgen. Man erinnere sich: Davor lagen zwei imperialistische Weltkriege, die zu diesem Zweck von Deutschland ausgingen.
Dem Verhältnis zu den USA wird außenpolitisch nach wie vor große Bedeutung zukommen. Allerdings wird von deutscher Seite darin zunehmend eine „ungleiche Beziehung“ gesehen, die die volle Verwirklichung der deutschen expansiven Kapitalinteressen behindert. Das Streben, die diesbezügliche „Ungleichheit“ zu beseitigen, wirkt zunehmend als störender Faktor bei der konkreten Umsetzung der Kapitalinteressen. Die Interessen des deutschen Volkes an Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit werden erst in Abhängigkeit davon berücksichtigt. Nicht das Friedensgebot, sondern der Profit und die Expansion haben Priorität und sind Leitfaden der deutschen Regierungspolitik.
Sozialdemokratische Außenpolitik
Der Opportunismus der sozialdemokratischen Bewegung bestimmt die von den Führungskräften der SPD vertretene Innenpolitik sowie die außenpolitische Linie. Sie nennt sich sozialdemokratisch und erklärt, Vertreterin der Interessen der Arbeitenden zu sein. Sie handelt aber im Interesse der Sicherung und Expansion der Macht des Monopolkapitals nach außen. Das belegt die Geschichte der Sozialdemokratie. Es ist also keine kurzzeitige und auch keine zufällige Erscheinung. Halbheiten und ständige Schwankungen, das Vorhandensein positiver und negativer Elemente in der im Namen ihrer Partei gestalteten Außenpolitik sind ein Resultat dieser inneren Widersprüchlichkeit.
Die Wirklichkeit erfordert aber eine Politik, die der Tatsache Rechnung trägt, dass es – angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – zur Entspannung und zur Abrüstung, zur Politik der friedlichen Koexistenz keine Alternative gibt. Sie ist die Voraussetzung für die Gewährleistung jeglichen kulturellen, ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts sowie für das Wohlergehen der Menschheit in Frieden. Die gegenwärtige wie künftige deutsche Außenpolitik steht in Widerspruch zu dieser Erkenntnis.
Außenpolitisches Personal
Seit der Gründung der BRD ist Olaf Scholz der neunte Bundeskanzler. Davon waren fünf Mitglieder der CDU, vier gehörten der SPD an. Dazu kommt die Rolle von Kurt Schumacher bei der Remilitarisierung der BRD. Die SPD-Führung war und ist also aktiver Gestalter dieses Staates und seiner Politik. Aber in wessen Interesse?
Lars Klingbeil ist der 20. SPD-Vorsitzende in den 24 Jahren seit Willy Brandt. Er ist Mitglied des Seeheimer Kreises, der auch Olaf Scholz politisch stützt, für Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident eingetreten ist und diesem auch jetzt den Rücken stärkt. Klingbeil steht zwar für eine jüngere Generation, aber nicht für eine Wende zu einer Politik der gleichberechtigten Zusammenarbeit und des Friedens zwischen den Völkern im Sinne August Bebels und seiner Nachfolger. Er ist bekannt für seine Nähe zur Bundeswehr und gehörte bis zu seiner Wahl zum Generalsekretär der SPD (2017) dem Präsidium der „Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik“ an, einem Zusammenschluss von Militärs, Industriellen und Politikern. Klingbeil hat enge Verbindungen zu IT-Konzernen und zu deren Lobbyverband, der „Initiative D21“, in dessen Präsidium unter anderen Microsoft und Deloitte vertreten sind. Die „Digitalisierung“ gehört bekanntlich zu den Schwerpunkten der Ampelkoalition!
Auch Olaf Scholz ist Mitglied des Seeheimer Kreises, dem überdies Martin Schulz, Frank-Walter Steinmeier, Heiko Maas, Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück angehören. Er wirkt in der Traditionslinie von Kurt Schumacher. Starke Fäden verbinden ihn mit der deutschen Rüstungsindustrie. Dieser Kreis ist ein Zentrum, das die Politik der SPD nach den Bedürfnissen des Kapitals gestalten will.
Außerdem sind Mitglieder der Regierung wie die Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit internationalen Netzwerken verbunden. Baerbock zählt zum Jahrgang 2020 des internationalen Netzwerks der Young Global Leaders (YGL), das vom World Economic Forum (WEF) und internationalen Oligarchen getragen und finanziert wird. Vorhergehenden Jahrgängen dieses Kreises gehörten beispielsweise aktive Politiker wie Emmanuel Macron (Staatspräsident Frankreichs) und Jens Spahn (Gesundheitsminister in der Merkel-Regierung) an.
Schluss mit Opposition
Mit der Umgestaltung der Partei „Die Linke“ zu einer reformistischen und opportunistischen Partei hat diese auch die Fähigkeit verloren, ihrem Auftrag als wirksame Oppositionskraft im Bundestag gerecht zu werden. Ihre Führung hat sich endgültig von der Erkenntnis verabschiedet, dass es primär Klasseninteressen sind, welche die Ziele und das Wirken politischer Parteien in der Innen- und Außenpolitik bestimmen.
Davon ausgehend verlässt die Partei ihre im gültigen Programm bestimmten außenpolitischen Grundpositionen, verliert sie ihr Alleinstellungsmerkmal als Friedenspartei und passt sich mit ihren Bewertungen den Standpunkten der Regierungspartei(en) an, um ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Es soll, so die langjährige Ko-Vorsitzende Katja Kipping, bei niemandem „außerhalb der linken Blase“ – welche Herabsetzung der eigenen Mitglieder und Bündnispartner – das Missverständnis entstehen, „dass wir im Zweifelsfall an der Seite von Putin gegen die Mitgliedstaaten der NATO stehen“.
Die Entwicklung der außenpolitischen Haltung der Linken geht eindeutig in eine Richtung, welche die Ursachen von Kriegen nicht im Imperialismus, in seiner Aggressivität und seinem Expansionsdrang sieht. In diesem Zusammenhang wird die Äquidistanz zur Leitlinie, die auch die Ergebnisse des nächsten Parteitages im Juni 2022 bestimmen wird.