Auf dem deutschen Buchmarkt gibt es nicht viele Veröffentlichungen, die das Leben der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt stellen. Die erfolgreichen Veröffentlichungen erzählen von Kindern, die in großen Häusern mit ihren intakten Familien leben. Keiner ist arm, kein Vater ist arbeitslos, niemand sucht vergeblich einen Ausbildungsplatz, kämpft um einen Abschluss an der Förderschule. Die wenigen Ausnahmen sind meist Übersetzungen, die deutschen Autorinnen und Autoren beschäftigen sich lieber mit der Suche nach neuen Identitäten und Selbstverwirklichung. Jeder soll sich wiederfinden können in der Kinder- und Jugendliteratur, unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Geschlecht. Für Arbeiterkinder gilt das nicht. Umso mehr sticht die niederländische Autorin Anna Woltz mit „Nächte im Tunnel“ heraus. Empfohlen wurde es mir für die große Tochter (14), gelesen haben es dann die mittlere Tochter (10) und ich. Die Geschichte ist so packend und zugleich so einfühlsam erzählt, dass wir das Buch kaum aus der Hand legen konnten. Auch eher faule Leser können sich dem kaum entziehen.
London, im deutschen Bombenhagel 1940. Die Menschen suchen jede Nacht Schutz in den Tunneln der U-Bahn. Sie liegen dort dicht an dicht, für den wenigen Platz müssen sie viele Stunden in der Schlange stehen. Unter den Schutzsuchenden sind Ella und ihr kleiner Bruder Robbie, Jay, der sich ganz alleine mit allerlei krummen Geschäften durchschlagen muss, und Quinn, die von zu Hause weggelaufen ist, um im Krankenhaus zu helfen.
Es kann offensichtlich gelingen, Kinder und Jugendliche für „schwierige“ Themen zu interessieren, sie durch eine spannende Handlung, faszinierende Figuren und einen ebenso angemessenen wie anspruchsvollen Schreibstil fürs Lesen zu begeistern. Ella, Robbie und Jay sind Kinder aus der Londoner Arbeiterklasse. Woltz erzählt die Geschichte aus deren Perspektive und ermöglicht ihren jungen Leserinnen und Lesern damit auch einen Eindruck von ihren ganz besonderen Schwierigkeiten. Die englische Regierung hatte keinerlei Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung geplant. Die Arbeiter und ihre Familien waren den Bomben schutzlos ausgeliefert. Viel zu spät und sehr zögerlich werden die U-Bahnschächte nachts als improvisierte Schutzbauten geöffnet. Wer hinein will muss stundenlang Schlange stehen. Die Angst, es nicht mehr rechtzeitig zu schaffen, keinen der begehrten Plätze zu ergattern, ist immer dabei.
Ella hat aufgrund einer Polioerkrankung ein gelähmtes Bein. Als sie Jay kennenlernt, der sich mit kleinen Gaunereien durchschlägt, passiert, was allen Jugendlichen überall auf der Welt passiert. Sie verliebt sich in den Jungen, der Schlafplätze verkauft, um zu überleben. Denn das verbindet die vier Freunde miteinander: sie wollen leben. Ihr Leben fängt doch gerade erst an, inmitten von Krieg, Hunger und Tod. Bei einer mutigen Autorin stehen diese Probleme nebeneinander. Die Angst vor den Bomben und die Angst, dass der Schwarm einen hässlich findet. Das schlechte Gewissen, weil man lieber mit der neuen Freundin durch die Stadt stromert als die Mutter beim Schlange stehen abzulösen. Ein gutes Jugendbuch schafft es, dass auch ein Mädchen im Jahr 2023 all diese Nöte versteht.
Anna Woltz
Nächte im Tunnel
Carlsen Verlag, 224 Seiten, 16 Euro
Erhältlich im UZ-Shop