Patrick Schreiner: Unterwerfung als Freiheit. Leben im Neoliberalismus, PapyRossa Verlag, Köln 2015. 127 S., 11,90 Euro
„Leben im Neoliberalismus“ – diesen Untertitel trägt das Buch des Politikwissenschaftlers, hauptamtlichen Gewerkschafters und Publizisten Patrick Schreiner. Das Grundanliegen des Buches lässt sich so zusammenfassen: Das private, berufliche und öffentliche Leben, kurz: alle Lebensbereiche sind vom Neoliberalismus erfasst worden. Und ausgerechnet in neoliberalen Gesellschaften, die Individualismus und Autonomie predigen, ist die Unterordnung „unter (angebliche oder tatsächliche) Anforderungen von Markt und Gesellschaft zur alltäglichen Normalität geworden“ (S. 106 f.). So erklärt sich auch der Haupttitel des Buches: Das Wörtchen ‚Freiheit’ bedeutet im Neoliberalismus nicht bloß Unterordnung unter die Anforderungen des Marktes, sondern vielmehr, dass diese Unterwerfung von den Menschen gewollt und bejaht wird.
Dem Autor geht es dabei nicht in erster Linie um die Entwicklung einer ökonomischen Schule und den Ideen, die neoliberale Wirtschafts-, Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik begründen. Vielmehr fragt der Autor nach „den alltäglichen – vermeintlich unpolitischen – Mechanismen, durch die Menschen diese Ansätze als gut, als angemessen und als alternativlos kennenlernen“ (S. 8). Unvermeidlich kommt hier dem Leser Antonio Gramscis Begriff des „Alltagsverstandes“ in den Sinn, also die alltägliche, häufig widersprüchliche Reflexion der Gesellschaft im Bewusstsein eines jeden Menschen. Der Autor bezieht sich nicht ausdrücklich auf Gramsci, wohl auch, weil es ihm um etwas anderes geht. Während der widersprüchliche Alltagsverstand für Gramsci immer auch ein Anknüpfungspunkt ist, dessen fortschrittliche Seite aufzuspüren, herauszuarbeiten und zu systematisieren, geht es Patrick Schreiner um einen Nachweis: Dass neoliberale Ideologie heute im Alltagsbewusstsein allgegenwärtig ist.
Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Das Buch ist gegliedert in 11 Kapitel und beginnt nach der Einleitung mit einer Einführung in den Begriff des Neoliberalismus, bevor weitere Kapitel folgen zu Bildung im Neoliberalismus, Ratgeberliteratur und Management-Trainings, Esoterik, Sport, Stars, TV-Shows, soziale Netzwerke sowie Life und Konsum.
Im einführenden Kapitel zum Neoliberalismus-Begriff gibt der Autor eine Begriffs-Bestimmung: Neoliberalismus sei nicht nur eine ökonomische Theorie. Sie sei viel mehr als das, nämlich eine politische und gesellschaftliche Ideologie (S. 17). Ziel dieser Ideologie sei die „marktförmige Gestaltung von Gesellschaften“, also die Etablierung von Marktprinzipien „weit über die Ökonomie hinaus in immer mehr Bereichen von Staat und Gesellschaft“ (ebd.). Der Autor will diejenigen Mechanismen in den Blick nehmen, durch die der Neoliberalismus „bestimmte Annahmen, Wünsche und Handlungen und Überzeugungen als richtig, gut und gerecht im Denken der Menschen verankert“ (S. 25).
Der Autor skizziert anschließend die Folgen neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie Privatisierungen und Deregulierung, den Kampf gegen Gewerkschaften und den Sozialstaat sowie die Steuerentlastungen für Unternehmen und Vermögende. Veränderungen in der objektiven Lage von Lohnabhängigen und deren klassenspezifische Subjektivität – zu deutsch: die Änderungen in der Arbeitswelt und im Bewusstsein der Kolleginnen und Kollegen – wird indes nur gestreift. Der Autor will sich ganz überwiegend darauf konzentrieren, wie sich das neoliberale Menschenbild, das Marktkonformität, d. h. Leistungsorientierung, ständige Selbstoptimierung und Konkurrenz einfordert, in Literatur, Fernsehen, Sport, Werbung und Konsum wiederfindet – und wie sich andererseits Menschen dieses Bild zu eigen machen.
Nehmen wir uns die einzelnen Kapitel einmal vor. In der deutschen Bildungslandschaft gibt es heute ein Potpourri aus privaten Schulen und Hochschulen, Drittmitteln, Exzellenzinitiativen und Studiengebühren. Die neoliberale Bildungsdebatte konzentriert sich auf dasjenige Wissen, was für berufliche und wirtschaftliche Zwecke unmittelbar relevant ist (S. 34). Zudem wird in der neoliberalen Bildungsdebatte die ständige Anpassung von Wissen an die Anforderungen der Unternehmen gefordert. Der Schlüsselbegriff lautet hier: „Lebenslanges Lernen“ (S. 35). Wer den Anforderungen nicht genügt und arbeitslos wird, ist schlicht selbst schuld. „Chancengleichheit“ – ein Begriff, den sich die europäische Sozialdemokratie auf die Fahne geschrieben hat – besteht konsequenterweise nur darin, allen Menschen gleichermaßen Bildungsangebote unterbreiten zu wollen (S. 43). Getreu dem Motto: „Fördern und Fordern“ der Agenda 2010.
Ratgeberliteratur und Esoterik, die sich der „inneren Einstellung“ ihrer Leser und Anhänger widmen, teilen diesen Grundgedanken: ‚Ändere dich Selbst‘! Sie richten sich damit insbesondere an Angestellte, mittleres Management und gut gebildete Menschen (S. 47, 55). Auch sportliche Fitness und der weitgehend kommerzialisierte Sport werden vom Autor als Beispiele für Selbstoptimierung und Anpassung angeführt (S. 62, 65). Hier setzt der Autor jedoch Breitensport ganz überwiegend mit Individualsport und neuem Extrem- und Funsport gleich; der traditionelle Fußball- oder Turnverein, in denen überwiegend Arbeiter und untere Angestellte organisiert sind, bleibt in seiner Betrachtung außen vor.
Dem kritischen Leser drängt sich daher ein wenig die Frage auf, ob nicht stärker entlang von Klassenunterschieden differenziert werden müsste. In der marxistischen Literatur geht man durchaus davon aus, dass neoliberale Leitbilder wie Leistungsorientierung, ständige Selbstoptimierung und Konkurrenz bei höher qualifizierten Beschäftigten stärker im Vordergrund stehen; während Solidarität unter Kollegen am Arbeitsplatz vor allem bei Un- und Angelernten, Facharbeitern und Vorarbeitern immer noch größer geschrieben wird als bei Angestellten (Vgl. dazu z. B. Thomas Lühr: Prekarisierung und ‚Rechtspopulismus’. PapyRossa Verlag, 2011).
Die Kapitel zu Stars und Sternchen, Casting-Shows und Reality-TV bilden die Highlights des Buches. Stars verkörpern dem Autor zufolge den neoliberalen Grundgedanken: Die Menschen sollen durch „aktive Anstrengungen zu Erfolg, Reichtum und Anerkennung“ gelangen (S. 71). Hingegen bilden billig produzierte TV-Shows die realen Probleme der Menschen wie Erziehungsprobleme oder Finanznot ab, so dass sich die Zuschauer damit identifizieren können – und bringen sie zu einem positiven Ende (S. 81).
Die Kapitel zu Life und soziale Netzwerke runden das Buch gut ab. Hier geht es nicht nur etwa um die ständig eingeforderte Selbstoptimierung von Casting-Jurys, sondern insbesondere um ständige Selbstdarstellung und Vermarktung des eigenen Lebenslaufs (S. 91).
Das Fazit: Der Autor schildert Fakten- und Detailreich den Einfluss des neoliberalen Menschenbildes auf Bildung und Freizeit. Die Darlegungen untermauern klar den richtigen Schluss des Autors, dass der neoliberale Freiheitsgedanke nichts anderes als eine freiwillige Unterwerfung unter die Anforderungen des Marktes – zu deutsch: unter die Interessen der Unternehmer – ist. Was für die Argumentation des Autors zielführend ist, verstellt jedoch zugleich ein wenig den Blick auf die Widersprüchlichkeit des Massenbewusstseins im Sinne Gramscis. Und damit auch auf die Frage, in welcher Klasse Solidarität und widerständiges Bewusstsein am ehesten zu finden/zu entwickeln sind.