Vor 75 Jahren wurde der Vorsitzende der KPD ermordet – Die BRD-Justiz ließ die Tat ungesühnt

Freispruch für Thälmanns Mörder

Von Ralf Hohmann

„Ein schändlicher, schäbiger Rest nach Jahren unzulänglicher Nachforschungen und Nachprüfungen, nach fünf Verfahrenseinstellungen, zwei Verfahrenserzwingungs-Entscheidungen und schließlich zwei Hauptverhandlungen, erst in Krefeld, jetzt in Düsseldorf, dazwischen noch ein Revisionsbeschluss des Bundesgerichtshofs. Der Mord an Thälmann, der Prozess gegen Otto – alles nur ein jämmerlicher, erbärmlicher Justizirrtum, der Hohn und Spott verdient, nichts sonst? Auch noch Zorn und Wut über Schlampereien, Verschleppungen, Verdrängungen von nachlässigen, gleichgültigen Juristen?

Aus: „Die Zeit“ vom 9. September 1988

Das SS-Kommando hatte den Gefangenen am Nachmittag des 17. August 1944 in der JVA Bautzen abgeholt. Gegen Mitternacht traf die schwarze Limousine im KZ Buchenwald ein. Der Häftling musste aussteigen. Sein letzter Weg war gesäumt durch ein Spalier von SS-Leuten. Es fielen kurz hintereinander drei Schüsse. Nachdem der Gefangene bereits zusammengebrochen war, folgte ein weiterer Schuss. Der hinterrücks Ermordete wurde noch in der gleichen Nacht verbrannt. In der Asche zurück blieb seine Taschenuhr. Sie trug die Gravur „Ernst Thälmann“.

Den Befehl zur Ermordung des Vorsitzenden der KPD hatte Hitler selbst gegeben. Am 14. August 1944 notierte der Reichsführer-SS Heinrich Himmler anlässlich einer Besprechung mit Hitler in der Wolfsschanze „Thälmann ist zu exekutieren“.

Die Mordaktion sollte von Anfang an vertuscht werden. Sie war als „Geheime Reichssache“ eingestuft. Mitte September 1944 war in den Zeitungen zu lesen, Ernst Thälmann sei neben anderen Opfer des Bombenangriffs geworden, den die Royal Air Force am 24. August 1944 gegen Weimar und Umgebung führte.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Der politische Häftling Marian Zgoda hatte alles beobachtet. Er gehörte zu den Krematoriumsarbeitern, die am Vorabend einen der Öfen anheizen sollten, bevor die Häftlinge wieder eingeschlossen wurden. Zgoda kam es merkwürdig vor, da keine Hinrichtungen angesetzt waren. Er schlich sich in der Nacht durch einen Luftschacht aus Block 27, in dem er untergebracht war. Als er die Geräusche einer ankommenden Limousine hörte, versteckte er sich hinter einem Schlackenhaufen. Er beobachtete, wie ein „großer und breitschultriger Mann mit einer Glatze bis zum Hinterkopf“ gebracht wurde. Dann fielen die Schüsse. „Stabsscharführer Otto und der Rapportführer Hofschulte aus dem Krematorium gingen über den Hof zum Tor. Dabei kamen sie dicht an dem Schlackenhaufen vorbei, hinter dem ich mich versteckt hatte. Da hörte ich, wie Otto Hofschulte fragte, ob er wisse, wer das gewesen sei. Hofschulte sagte: Nee. Da antwortete Otto: „Das war der Kommunistenführer Thälmann.“

Wolfgang Otto, seit 1933 Mitglied der SA und später der SS und seit 1939 im Führungsstab des KZ Buchenwald, war Leiter des „Kommandos 99“, das die Exekutionen im Lager vornahm. Etwa 8 000 sowjetische Kriegsgefangene wurden im sogenannten Pferdestall des Lagers durch eine Genickschussanlage oder durch Erhängen an Wandhaken ermordet.

Der Zeuge Zgoda schilderte den von ihm beobachteten Vorgang in den Jahren 1947 und 1948 mehrfach, auch vor dem US-Militärgericht in Dachau, das gegen Otto und 30 weitere Angeklagte verhandelte. Otto wurde wegen der Beteiligung an der Ermordung Ernst Thälmanns allerdings nicht belangt. Wegen der Teilnahme an anderen Gewaltverbrechen im KZ Buchenwald 1947 erkannte das Gericht auf eine 20-jährigen Haftstrafe. Otto kam wegen „guter Führung“ dann aber schon 1952 aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landshut frei. Er nahm seine Tätigkeit als Lehrer an einer katholischen Volksschule auf.

Der ehemalige Buchenwald-Häftling Ludwig Landwehr, der in der Nachkriegszeit selbst versucht hatte, die Umstände der Ermordung Ernst Thälmanns aufzuklären, hörte 1961 von Ottos Freilassung. Er stellte Strafanzeige und legte Beweismaterial vor, darunter auch den Text der Aussage des Zeugen Zgoda. Die Witwe des Ermordeten, Rosa Thälmann, schloss sich dem an. Sie ließ sich von Prof. Friedrich-Karl Kaul vertreten, der zu jener Zeit als einziger Anwalt in der DDR über die Zulassung für Verfahren in der BRD verfügte. Der zuständige Kölner Staatsanwalt Dr. Hans-Peter Korsch von der Zentralstelle zur Verfolgung von KZ-Massenverbrechen stellte das Verfahren am 10. Januar 1964 wegen fehlenden Tatverdachts ein. Otto hatte ihm gegenüber jegliche Beteiligung an der Mordaktion bestritten, den Zeugen Zgoda hielt Korsch schlicht für unglaubwürdig. Korsch: „Abgerundet wird das Bild des Zeugen, der heimatloser Ausländer ist, durch die Tatsache, dass er im Jahr 1951 wegen Verteilens kommunistischer Flugblätter in Erscheinung“ trat.

Rosa Thälmann und ihr Rechtsbeistand ließen sich nicht von der Einstellung des Verfahrens beeindrucken. Sie stießen allerdings auf den Unwillen der Strafverfolger, den Sachverhalt aufzuklären. Bis 1982 scheiterten weitere fünf Anzeige- und Beschwerdeverfahren. Auslieferungsersuchen der DDR blieben unerledigt. Die westdeutsche Justiz sah entgegen dem Tatortprinzip, die Zuständigkeit der Ermittler in Weimar nicht für gegeben an. Rosa Thälmann starb, ebenso ihr Anwalt, Professor Kaul. Auch der Zeuge Zgoda war gestorben und konnte persönlich nicht mehr angehört werden.

Es schien, als hätte die Verzögerungstaktik der westdeutschen Justiz Erfolg. Die Tochter Ernst Thälmanns, Irma, beauftragte den westdeutschen Anwalt Heinrich Hannover im Februar 1982 mit einem Klageerzwingungsverfahren nach Paragraf 172 StPO beim Oberlandesgericht Düsseldorf. Nachdem abermals das zur Eröffnung des Hauptverfahrens zuständige Landgericht Kleve die Annahme des Verfahrens verweigerte, gelang es der Nebenklage, das Verfahren beim Landgericht Krefeld anhängig zu machen. Die Hauptverhandlung begann am 5. November 1985. Der Angeklagte Otto bestritt weiterhin, an der Exekution Thälmanns direkt beteiligt gewesen zu sein. Er habe nur in der Verwaltung eine Funktion ausgeübt.

Das Gericht scheute sich, die schriftlich fixierte Aussage des Zeugen Zgoda als beweiserheblich anzusehen. Es vernahm 43 Zeugen und führte über das Kreisgericht Weimar einen Ortstermin im ehemaligen KZ Buchenwald durch. Es zog die Aussage des SS-Angehörigen Fricke heran, dem gegenüber Otto nach Kriegsende die Tatbeteiligung gestanden hatte, allerdings mit dem Zusatz, ein anderer habe geschossen. In seinem Plädoyer wies Heinrich Hannover darauf hin, es könne für die Erfüllung des Mordtatbestandes nicht darauf ankommen, ob der Täter selbst die Waffe geführt hat oder die Tatherrschaft über Vorbereitung, Durchführung und Vertuschung der Mordaktion am Schreibtisch des Todeslagers inne hatte. Das Landgericht Krefeld verurteilte Otto wegen Beihilfe zum Mord zu einer Strafe von vier Jahren. Aus dem Rückgriff auf die bloße Gehilfenschaft und dem geringen Strafmaß ist der Versuch erkennbar, die Sache mit einem Kompromiss zu beenden: Täterschaft nein – Strafe ja, aber gemildert.

Otto ging in Revision. Er hatte Erfolg. Der 3. Strafsenat des BGH hob seine Verurteilung am 25. März 1987 (Az 3 StR 574/86) auf. Seine Entscheidung begründet es damit, die Krefelder Richter hätten sich mit ihren Schlussfolgerungen so weit von den Tatsachen entfernt, dass lediglich Vermutungen überblieben. Die Sache wurde dem Landgericht Düsseldorf zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zugewiesen. Nach weiteren über 20 Verhandlungstagen, einer Vielzahl von Beweisanträgen der Nebenklage, erging am 29. August 1988 das Urteil: Freispruch. Weder Täterschaft noch Teilnahme an der Mordaktion seien Otto nachzuweisen. 44 Jahre nach der Tat seien Tatsachen nicht mehr zweifelsfrei festzustellen. Der Mord an Ernst Thälmann blieb ungesühnt.

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"Freispruch für Thälmanns Mörder", UZ vom 16. August 2019



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