Zur Rolle Rojavas bei der Zerschlagung Syriens

Freiheit oder Besatzung?

Von Manfred Ziegler

Arabische Republik

Zur Geschichte der Kurden in Syrien

Syrische Arabische Republik – der Name ist Programm. Syrien ist ein Staat, der Menschen unterschiedlicher Religionen und unterschiedlicher ethnischer Gruppen umfasst. Doch die Identität des Staates ist arabisch.

Viele Menschen sind in den letzten hundert Jahren vor Verfolgung nach Syrien geflohen. Armenische Christen aus dem zerfallenden Osmanischen Reich, irakische Araber nach der Zerstörung ihres Landes durch die USA und Kurden, die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts die kemalistische Türkei verlassen mussten und die lokale kurdische Bevölkerung ergänzten. Fast könnte man sagen, Abdullah Öcalan, der Vorsitzende der PKK, der von 1979 bis 1998 in Damaskus im Exil lebte, war der letzte von ihnen.

Die Beziehungen zwischen der „Arabischen Republik“ und den kurdischen Teilen der Bevölkerung war immer schon schwierig.

Mit den Protesten von 2011 und dem Krieg gegen Syrien änderte sich alles. Die syrische Armee musste sich aus den kurdischen Gebieten zurückziehen, um an anderen Orten gegen die Dschihadisten zu kämpfen. Einheiten der YPG übernahmen in „Rojava“ die Kontrolle.

„Rojava“ ist kurdisch und bedeutet so viel wie „Westen“. Es bestand einmal aus drei kleinen Gebieten im Norden Syriens um Afrin, Kobane (Ain al-Arab) und die Cizre (Ras al-Ayn) im Norden und Nordosten Syriens. Die drei kurdischen sogenannten Kantone waren durch Gebiete mit überwiegend arabischer Bevölkerung voneinander getrennt – eine für eine Autonomie jeglicher Art denkbar schlechte Voraussetzung.

Wie könnten Interessen von Kurden in Syrien am besten durchgesetzt werden? Eine Autonomie der drei kurdischen Kantone war aufgrund der begrenzten Ressourcen und der regionalen Verteilung von vornherein ausgeschlossen. Eine reale Möglichkeit war, als kurdische Minderheit unter (in der Zukunft auszuhandelnden) besseren Bedingungen für eine kulturelle Autonomie in einem weiterhin arabisch bestimmten Syrien zu leben. Doch eine weitere Möglichkeit ergab sich aus dem Verlauf des Krieges.

Das Bündnis mit dem mächtigen Partner USA hatte sich im Krieg gegen den IS gebildet. US-Waffen, Logistik und finanzielle Hilfe boten den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) die Möglichkeit, im Krieg gegen den IS die Kontrolle über weite Teile Syriens östlich des Euphrat zu übernehmen. Die auf Dauer angelegte Zusammenarbeit brachte beiden Seiten Vorteile. Die USA konnten den „Regime-Change“ wenigstens in einem Teil Syriens durchsetzen. Und die kurdischen Parteien konnten von Autonomie träumen, in einem Gebiet, dessen Einwohner in der Mehrheit Araber waren, in dem aber die kurdisch dominierten „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF) die Kontrolle hatten.

Es ist nur folgerichtig, dass der allgemeine Sprachgebrauch für dieses Gebiet eher den kurdischen Begriff „Rojava“ verwendet als den neutralen, wenn auch nicht gerade realistischen Begriff „Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien“. Die Bezeichnung „Rojava“ widerspricht gerade dem vorgeblich föderalen Charakter des Gebietes mit seinen gleichberechtigten Einwohnern.

Der bedeutendste Konflikt in diesem neuen „Rojava“ jenseits der ursprünglichen kurdischen Kantone verläuft zwischen den kurdisch dominierten SDF und den arabischen Stämmen. Die Truppen der USA und Frankreichs vermitteln in Konfliktfällen und weiten so ihren Einfluss aus. Dennoch führt der Streit um die Verteilung der Einkünfte aus dem Ölgeschäft und um Zwangsrekrutierungen immer wieder zu Protesten und bewaffneten Auseinandersetzungen.

Für viele junge Leute, vor allem, wenn sie ihre Familie unterstützen müssen und keine Ausnahme erhalten, ist die Einberufung ein Gräuel. Manch einer versucht – zum Teil über mehrere Wochen – sich davor zu verbergen.

Nicht nur die USA und Frankreich sind mit ihren massiven Waffenlieferungen, Truppen und Garnisonen in „Rojava“ aktiv. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate machen ihren Einfluss in „Rojava“ geltend – vor allem finanziell.

Der saudische Minister für Angelegenheiten der Golfstaaten besuchte das Gebiet mehrmals und konferierte dort mit Vertretern der lokalen Verwaltung und Diplomaten der USA. Saudi-Arabien versprach schon vor einem Jahr 100 Millionen Dollar, die VAE wollten 50 Millionen Dollar zur Verfügung stellen.

Gesetze und Gewalt

Zur Beziehung zwischen Kurden und dem syrischen Staat

Einer der Meilensteine in der Beziehung zwischen Kurden und syrischem Staat war die Volkszählung in Hasaka von 1962, in deren Verlauf viele Kurden die syrische Staatsangehörigkeit verloren. Noch immer gibt es zwei Sichten auf diese Volkszählung – die „arabische“ und die „kurdische“. Ging es dem damaligen Gouverneur von Hasaka, Said as-Saiyid, mit seinem Dekret Nr. 93 darum, Kurden zu identifizieren, die sich angeblich illegal aus der Türkei kommend in Syrien angesiedelt hatten? Oder ging es doch darum, Großgrundbesitzern zu mehr Landbesitz zu verhelfen? Im Ergebnis wurden jedenfalls 120000 Kurden die syrische Staatsbürgerschaft entzogen, bis 2011 waren 300000 Personen davon betroffen.

Die Gouverneure und Staatspräsidenten kamen und gingen – doch die Ergebnisse dieser Volkszählung blieben. Als Baschar al-Assad nach dem Tod seines Vaters syrischer Staatspräsident wurde, ließ er bald einen Gesetzentwurf schreiben, der den Entzug der Staatsbürgerschaft revidieren sollte. In Kraft gesetzt wurde der Entwurf lange Zeit nicht.

Erst mit den Protesten 2011 konnten die „staatenlosen“ Kurden die Staatsangehörigkeit wieder erhalten. Das Dekret Nr. 49 des Präsidenten Assad gab ihnen die Möglichkeit, die syrische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Im Mai 2011 meldete die syrische Nachrichtenagentur SANA die Zahl von 32000 Bewerbungen um die Staatsbürgerschaft.

Ein weiterer Meilenstein war der Aufstand in Qamischli von 2004. Im Rahmen eines Fußballspiels kam es zu Gewalttätigkeiten zwischen Anhängern der (arabischen) Gastmannschaft und der (kurdischen) Heimmannschaft. Die Auseinandersetzungen eskalierten, Gebäude wurden abgefackelt, die Armee wurde eingesetzt, es gab Tote und Tausende Kurden flohen in die kurdischen Autonomiegebiete des Irak. In der Folge verschärften sich die Konflikte zwischen dem syrischen Staat und kurdischen Organisationen. Kundgebungen und kulturelle Feiern wie das Frühlingsfest wurden unterbunden, Führer von kurdischen Parteien wurden verhaftet.

Für die Regierung in Damaskus schienen die kurdischen Aktivitäten eine Bedrohung der Einheit des Landes zu sein. Doppelt gefährlich schienen sie wegen der Situation im Irak nach der Eroberung durch die USA.

Eiszeit

Zum Verhältnis zwischen der syrischen Regierung und den SDF

Nachdem sich die syrische Armee unter dem Druck des Krieges aus den kurdisch geprägten Gebieten Syriens zurückgezogen hatte, blieben die Beziehungen zwischen „Rojava“ und Damaskus gespannt. Beide Seiten vermieden militärische Konfrontationen so gut es ging, doch Misstrauen bestimmte die gegenseitigen Beziehungen. Die kurdische Politik war auf das baldige Ende des „Regimes“ ausgerichtet.

Weit über eine lediglich militärische Zusammenarbeit mit den USA hinaus strebte die Verwaltung von Rojava ein enges politisches Bündnis mit den USA an. Im Interview mit der Tageszeitung „junge Welt“ am 12. Mai 2015 pries Idriss Nassan – damals als Vizeaußenminister der Verwaltung des Kantons Kobane vorgestellt – das Bündnis mit den USA: „(Für die USA) wären wir die beste Wahl in der Region, wenn es wirklich um eine Stärkung demokratischer Kräfte gehen soll“. Doch gerade darum geht es nicht. Es geht um Machtpolitik, Ressourcen, den Sturz der syrischen Regierung von außen. Die kurdische Politik gab den USA, was sie wollten: Militärstützpunkte, Kontrolle über Ressourcen und einen bedeutenden Teil Syriens – „Regime-Change light“.

Das strategische Bündnis mit den USA bestimmt die kurdische Politik. Erneut wurde das deutlich, als US-Präsident Trump ankündigte, die US-Truppen aus Syrien abziehen zu wollen. Zwar gab es in dieser Zeit wegen eines möglicherweise drohenden türkischen Angriffs lange – und ergebnislose – Verhandlungen zwischen Vertretern der kurdischen Verwaltung und der Regierung in Damaskus. Doch zugleich war Ilham Ahmed als Vertreterin der politischen Interessen der SDF in Washington. Sie war dort, um Abgeordnete und Regierungsbeamte zu drängen, die Entscheidung zum Abzug der Truppen zurückzunehmen oder zumindest zu verschieben. Die Verhandlungen der SDF mit der syrischen Regierung, die so entscheidend hätten sein können, waren nur eine Drohkulisse, um den kurdischen Forderungen in Washington Nachdruck zu verleihen. Scheinbar war diese Politik von Erfolg gekrönt – es erfolgte der Rückzug vom Rückzug.

Doch in Wirklichkeit war es ein Fiasko. Die kurdische Politik wollte sich nicht mit Damaskus einigen und war damit auf Gedeih und Verderb an die Interessen der USA gebunden. Die erneute Behauptung, Verhandlungen mit Damaskus aufnehmen zu wollen, um die Errichtung der türkischen Sicherheitszone im Norden Syriens zu verhindern, lief vollkommen ins Leere. Alle Beteiligten in Washington, Ankara, Damaskus und Kobane wussten, was sie davon zu halten hatten. Und so ziehen sich die SDF klaglos aus der zwischen der Türkei und den USA vereinbarten Sicherheitszone zurück.

Für die syrische Regierung sind die SDF nur noch eine Miliz wie jede andere. Eiszeit.

Manfred Ziegler zu Rojava

Leuchtfeuer oder Irrlicht?

Rojava – das waren einmal drei kurdische Kantone im Norden Syriens. Im Rahmen des Krieges gegen Syrien kamen die Terroristen des IS auch nach Rojava und bedrohten die bloße Existenz der kurdischen Bevölkerung. Für die Linke in Europa und darüber hinaus wurde der Kampf um Rojava zu einem Leuchtfeuer in den Untiefen des Krieges um Syrien. Oder war es vielleicht doch ein Irrlicht?

Was Syrien betrifft, überdeckten die Medien im Westen alle Widersprüche, Entwicklungen und Veränderungen mit dem Bild vom furchtbaren Diktator, der sein Volk abschlachtet. Die Linke war gegenüber diesem Narrativ vollkommen hilflos. Eine kritische Diskussion über Syrien und die Darstellung in den Medien fand kaum je statt.

Den medialen Informationsbomben gegenüber hilflos, flüchtete die Linke in ein anderes Narrativ, das von der Emanzipation in Rojava. Der Kampf um Kobane bildete den Ausgangspunkt für dieses Narrativ – und zugleich für das Bündnis der PYD und YPG mit den USA.

Jenseits der Heldensaga um Rojava war der Kampf um weite Gebiete Syriens östlich des Euphrat eine Materialschlacht der US-Luftwaffe und Artillerie. Die Washington Post zitiert einen französischer Artillerieoffizier, der die Einsätze kommandierte, die die SDF unterstützten: „Wir haben die Infrastruktur nahezu vollständig zerstört und der Bevölkerung ein abstoßendes Bild davon gegeben, was eine Befreiung nach Art des Westens bedeutet.“

Symbol für diese Zerstörung ist die Stadt Raqqa, die nach der Zerstörung durch US-Luftwaffe und Artillerie einen zweiten Tod der Vernachlässigung stirbt.

Diejenigen Einwohner, die nach Raqqa zurückkehrten, kamen in ein Trümmerfeld. Sie müssen ihre toten Angehörigen aus dem Schutt bergen, bedroht von Blindgängern und Minen, organisierte Banden berauben die Einwohner. Die Washington Post lies ein Mitglied des Verwaltungsrates von Raqqa warnen: „Wenn wir den Wiederaufbau nicht voranbringen, wird das Wasser auf die Mühlen von Assad.“ Stimmt! Denn im Regierungsgebiet läuft der Wiederaufbau schon lange.

Das enge militärische und politische Bündnis mit den USA hat Rojava vollständig zerstört. Es gibt keine kurdischen „Kantone“ mehr, sondern nur noch ein Gebiet, das die USA mit ihren Stützpunkten und Waffen kontrollieren – und von den YPG kontrollieren lassen. Mit freundlicher Unterstützung durch die Golfstaaten.

Im besetzten Gebiet im Norden Syriens geht es um nichts als die Kontrolle über Ressourcen. Der größte Teil der Erdöl- und Erdgasvorräte Syriens, ein großer Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche liegt in den Gebieten unter Kontrolle der USA und ihrer Verbündeten – dem Wiederaufbau des Landes bewusst entzogen.

So ist Rojava untergegangen – in aller Pracht, mit Soldaten und Waffen aus den USA, mit Geld aus den Golfstaaten.

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"Freiheit oder Besatzung?", UZ vom 11. Oktober 2019



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