Wer in Frankreich hätte denn am 1. Mai vor einem Jahr geglaubt, dass ein Jahr später Schüler und Studenten zu Tausenden auf die Straße gehen und zusammen mit Gewerkschaftern ihre Zukunft einfordern? Wer hätte auch nur daran gedacht, dass vor allem die Jungen eine neue Form des Widerstands schaffen: „Nuits debout“, nächtelanger Aufstand gegen die „sozialistische“ Regierung Hollande, ähnlich wie bei „Occupy Wallstreet“ einander zuzuhören, sich verständigen und Auswege suchen? Auch wenn noch vor dem 1. Mai die Bereitschaftspolizei CRS und die Gendarmerie in Paris das Protestcamp auf dem Platz der Nation mit Gewalt, Verletzten und Verhaftungen abrissen, breitete sich die Bewegung dennoch auf weitere Großstädte aus. Auch wenn erneut Gewerkschafter verhaftet wurden, auch wenn im bretonischen Rennes einem 20-Jährigen ein Auge ausgeschossen und 38 Demonstranten krankenhausreif geprügelt wurden – den Widerstand prügelt die provozierende Polizei nicht aus der Welt, sie nicht und nicht die hinter ihr stehende Regierung Valls und auch nicht geifernde Rechte wie Eric Ciotti, Abgeordneter aus dem Süden, die die Demonstrationen verbieten will. Der 1. Mai und der 3. Mai werden weitere Meilensteine des Protestes sein, um die Aushöhlung des Arbeitsrechts zu verhindern. Die kämpfenden Gewerkschafter drängten selbst den Vorsitzenden Philippe Martinez auf dem Gewerkschaftskongress der CDT, das Wort „Generalstreik“ in den Mund zu nehmen.
Das hinter der Regierung seinem Ausbeutungswerk nachgehende Finanzkapital stärkt Präsident François Hollande den Rücken; der Präsident des Unternehmerverbandes Medef, Pierre Gattaz, drängt darauf, das „Gesetz Khomri“ durchs Parlament zu peitschen. Danach wird der Mohr seine Schuldigkeit getan haben und kann gehen. Hollande hat seine erneute Kandidatur von einer Trendwende in der Arbeitslosigkeit abhängig gemacht. Die Statistik ist, in den Medien groß herausgestellt, zu Diensten: Wie in Deutschland wurden zum Beispiel die Fortzubildenden und Kranken aus der Arbeitslosenstatistik herausgerechnet – was tut’s, wenn die Zahl der prekär Beschäftigten gleichzeitig steigt. Aber dass François Hollande erneut antritt, glaubt niemand so recht. Sein Wirtschaftsminister Emmanuel Macron diente sich Anfang April der Bourgeoisie an mit der Gründung von „En marche!“, was sich zu einer Bewegung auswachsen soll. Medienwirksam machte er dem Renault-Boss Carlos Ghosn seinen Anteil am Profit streitig. Zum ersten Mal hatte die Aktionärsversammlung mit 54,12 Prozent beschlossen, die Managervergütung von 7 Millionen Euro zu kürzen, was der Verwaltungsrat aber flugs wieder zurechtrückte. Dazu steckt Ghosn weitere 8 Millionen von den japanischen Arbeitern bei Nissan ein. Premierminister Manuel Valls scharrt Ende April nun auch mit den Hufen mit seiner Bewegung „Gauche adroite“. Im Französischen ein Wortspiel, das verschiedene Assoziationen verbindet: auf Deutsch etwa „Geschickt links“, „Gauche a droit“ = „Die Linke nach rechts“, „Links steht dafür“ „Die Linke hat Recht“… Wann die Gründung offiziell wird, ist noch nicht bekannt, aber das Unterstützungskonzert wird auf dem Platz der Republik stattfinden und Madame Sarkozy – Carla Bruni – wird dort singen … Die beiden Galionsfiguren verlassen das sinkende Schiff Parti Socialiste. Offiziell visiert Manuel Valls für seine Bewegung 2017 eine Mitgliederzahl von einer halben Million an. Die Tageszeitung „Le Parisien“ deckte zum 1. Mai auf, dass Ende 2015 gerade 86 171 Mitglieder ihren Beitrag pünktlich entrichtet hatten, mit denen, die zwei Monate im Verzug sind, wären es 135 833. Aber in das im kommenden Jahr anstehende Präsidentenrennen schickt die Bourgeoisie noch die Republikaner (LR), Expräsident Sarkozy mandelt sich auf, der frühere Premier François Fillon rechnet sich Chancen aus und der Front National steht Gewehr bei Fuß, betreibt zur Zeit eine „Selbstreinigung“: Parteichefin Marine Le Pen will die Anhänger ihres tiefbraunen Vaters aus der Partei drängen.
Nur die Linke ist (noch) nicht gewappnet. Jean-Luc Melenchon, der Kovorsitzende des „Parti de Gauche“, hat sich selbst aufgestellt. Die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) will die zerfallene Linksfront auf eine neue Basis stellen. Ihr Vorsitzender Pierre Laurent bestand im Interview mit „RT en francais“ nicht auf eine Parteikandidatur. Auf dem Parteikongress vom 2. bis 5. Juni in Aubervilliers (Region Paris) wird darüber entschieden, auch wie mit den aus den USA importierten „Primaires“, also Vorwahlen innerhalb der Linken, umgegangen wird. Zu dem vom Parteivorstand vorgelegten Grundsatzdokument „Mettons nos forces en commun“, auf Deutsch etwa „Nehmen wir unsere Kräfte zusammen“ wurden drei Alternativversionen eingereicht, darunter eine, die sich zur Aufgabe macht, die Partei zu erneuern. Zwischen dem 2. und 5. Mai stimmen die Parteimitglieder schriftlich ab, welcher der Texte zur Grundlage der Parteitagsdiskussion gemacht werden soll. Daraus wird sich das Verhältnis der verschiedenen Kräfte innerhalb der Partei ablesen lassen. Noch im Vorfeld des Parteitags unternimmt die Partei den Kraftakt, ihre Mitglieder mit 500 000 Fragebögen „Was fordert das Volk“ ausgestattet, zu einer „Großen Bürgerbefragung“ ausschwärmen zu lassen. Leider vermisst man so wichtige Fragen wie zur Interventionspolitik Frankreichs und der NATO, die von Hollande vollzogene Reintegration der Streitkräfte in die NATO. Die Eigentumsfrage wird nicht gestellt. Zur EU wird nur nach einer (illusionären) Neuverhandlung der Verträge gefragt.
Pierre Laurent jedenfalls brachte im Interview die Klassenverhältnisse im Lande auf eine kurze Formel: die Verhältnisse haben sich verschlechtert, aber auch Hoffnungen sind aufgekeimt.