Der Wettbewerb der 66. Berlinale

Fragwürdige Perspektive

Von Hans-Günther Dicks

s scheint nicht gut zu stehen um die Zukunft des Kinos. Sollte diese wirklich darin liegen, mit einem Film von mehr als acht (!) Stunden Laufzeit und einer exotischen, hoch politischen, aber außerhalb seines Herkunftslandes kaum verständlichen Thematik auch die letzten Reste eines an Filmkunst interessierten Publikums zu dezimieren? „Wiegenlied für das sorgenvolle Geheimnis“ heißt der besagte Film auf der am Sonntag beendeten 66. Berlinale, gedreht hat ihn der Filipino Lav Diaz über die Befreiung seines Landes von spanischer Kolonialherrschaft um 1900. Der Grund, dass ihn der UZ-Rezensent nicht gesehen hat, war also nicht nur – wie bei anderen Filmen – die auf der Berlinale grassierende Grippe. Die Internationale Jury dagegen sprach Diaz ausgerechnet den Alfred-Bauer-Preis zu für einen „Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet“. Einen Preis für den Weg in die Sackgasse, in der die Propheten der „L‘art pour l‘art“ sicher Spalier stehen werden, aber wohl auch ein Weg der Juroren aus der Zumutung, ein solches Werk neben „normaler“ Filmkunst werten zu müssen.

Man kann darin auch ein Indiz sehen, dass die Berlinale bei der Programmauswahl einmal mehr nicht aus dem Vollen schöpfen konnte wie ihre Konkurrenten Cannes und Venedig. Fünf der 23 Wettbewerbsfilme liefen „außer Konkurrenz“, andere durchaus konkurrenztaugliche wie Michael Moores Politulk „Where to Invade Next“ oder Terence Davies‘ „A Quiet Passion“ liefen nur als Sondervorführung, und erstmals konkurrierten sogar zwei Dokumentarfilme um die Bären. Thematisch fand sich alles, was zu einem Filmfestival gehört, das sich gerne als besonders politisches sieht: koloniale Befreiung (neben Diaz‘ Film auch im portugiesischen „Cartas da guerra“ von Ivo M. Ferreira), imperialistische Kriege (in Rafi Pitts‘ „Soy Nero“ und in Alex Gibneys „Zero Days“ über den „Stuxnet“-Cyberkrieg gegen den Iran), Widerstand gegen die Nazis („Alone in Berlin“ des Schweizers Vincent Perez nach Falladas „Jeder stirbt für sich allein“) und natürlich – wie könnte es in diesen Tagen anders sein? – das Thema Flüchtlinge und Asyl, das Festivalchef Dieter Kosslick mit einer Spendenkampagne und Sonderaktionen zu seiner Herzensangelegenheit gemacht hatte.

Das Thema Nr.1 ließ den Juroren kaum eine wirkliche Wahl: Gianfranco Rosi, der mit dem Dokumentarfilm „Sacro GRA“ in Venedig 2013 Überraschungssieger war, hat in „Fuocoammare“ (zu deutsch „Feuer auf dem Meer“) dokumentarisch die Beziehungen oder besser: die Nicht-Beziehungen zwischen der Fischergemeinde auf der Insel Lampedusa und den in Scharen dorthin Flüchtenden (und schon bald Weitergeschickten) aus den Krisengebieten der Welt erkundet. Rosis Film wurde so fast unausweichlich zum Festivalsieger und erhielt neben dem Goldenen Bären auch noch drei Preise anderer Jurys. Die breite Streuung der insgesamt sieben Silbernen Bären aber deutet darauf hin, dass es die wirklich großen Entdeckungen diesmal offenbar nicht gab. Da wäre auch für den einzigen deutschen Bewerber ein Bär angemessen gewesen, etwa für die grandiose Julia Jentsch. Sie spielt in Anne Zorah Berracheds Psychodrama „24 Wochen“ die taffe und erfolgreiche Kabarettistin Astrid, die mit ihrem Manager und Lebenspartner Markus (etwas blass: Bjarne Mädel) und ihrer Tochter ein glückliches Leben führt, bis bei einer zweiten Schwangerschaft die Down-Symptom-Prognose sie vor eine Entscheidung stellt, die sie dann doch ganz alleine treffen muss. Jentschs Astrid war eine von vielen auffallend starken Frauenfiguren im diesjährigen Wettbewerb.

Dagegen gelangte ein Film wie Michael Grandages „Genius“, eine arg papierene Würdigung für den Autor Thomas Wolfe und seinen Lektor Maxwell Perkins, wohl nur dank seiner Stars Jude Law und Colin Firth in den Wettbewerb. Die Starpower Gérard Depardieus bescherte dem ansonsten eher ernsten Festival gegen Schluss – außer Konkurrenz – doch noch etwas zum Lachen: Das Regie-Duo Benoît Delépine und Gustave Kervern dreht seit Jahren gemeinsam deftige Komödien und war damit schon auf mehreren Festivals erfolgreich. In ihrem neuesten Streich „Saint Amour“ spielt Depardieu einen alten Viehzüchter, der mit seinem Zuchtbullen auf der nationalen Agrarschau in Paris endlich einmal einen Preis gewinnen will, bevor er den Betrieb seinem etwas tölpelhaften und verklemmten Sohn Bruno übergibt. Der aber, umwerfend schräg gespielt von Belgiens Starkomiker Benoît Poelvoorde, hält mehr vom Aroma französischer Spitzenweine als vom Duft der Ställe und nutzt die Gelegenheit zu einer Sauftour durch die Messehallen und danach sogar zu dritt mit Vater und einem jungen Pariser Taxifahrer durch die Provinzen.

(„Saint Amour“ kommt immerhin im Oktober in deutsche Kinos, für „24 Stunden“ war noch kein Kinostarttermin zu erfahren.)

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"Fragwürdige Perspektive", UZ vom 26. Februar 2016



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