Stärkung der Benachteiligten durch Inklusion droht zu scheitern

Förderung für die Starken

Von Uli Scholz

So sollte es in unseren Klassen sein

So sollte es in unseren Klassen sein

( Aktion Mensch / Thilo Schmülgen)

Schulen sollen für alle Kinder geeignet und folglich in umfassendem Sinn barrierefrei sein. Diesen Anspruch bezeichnet der Begriff Inklusion. Der UN-Behindertenrechtskonvention zufolge soll die Einzigartigkeit jedes Menschen auch nach der Schulzeit gefördert, jede/r soll in die Lage versetzt werden, eigene Interessen selbst zu vertreten. Ziel von Bildung ist daher „Empowerment“, Selbstermächtigung.

Obwohl die Inklusion in sehr unterschiedlichem Tempo vorangetrieben wird, gilt für alle Bundesländer, dass die sachlichen und personellen Ressourcen nicht ausreichen, weil die Bildungsausgaben der Kostenreduktion zugunsten des gesellschaftlichen Gesamtprofits unterliegen. Eine von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für die Lehrkräfte in Niedersachsen in Auftrag gegebene Belastungsstudie ergab 2017, dass es 80 Prozent der Lehrkräfte an Schulen als (eher) starke Belastung erleben, ihre Ansprüche an die Qualität der eigenen Arbeit aus Zeitmangel nicht umsetzen zu können. Inklusion erfordert im selben Klassenraum gleichzeitig Unterricht auf mehreren Niveaustufen, was bei einer bezahlten Gesamtvorbereitungszeit von etwa 20 Minuten pro Unterrichtsstunde einschließlich aller Korrekturen kaum gut geplant werden kann. Ein jüngst pensionierter Grundschulleiter aus Hessen in der Maiausgabe der GEW-Zeitung Erziehung und Wissenschaft: „Wir gaukeln allen vor, dass kein Kind zu kurz kommt, aber das stimmt nicht.“

Schulische Inklusion im Sinne der UN wurde bisher auch politisch verhindert und keine Landesregierung plant, die Auslese der leistungsstärkeren Kinder am Ende der gemeinsamen Grundschulzeit aufzugeben. Oberschulen ohne Ausrichtung auf das Abitur, die von kaum noch 50 Prozent der Kinder besucht werden, sind von vornherein für benachteiligte Kinder vorgesehen, die ihre Arbeitskraft später zu besonders schlechten Bedingungen werden verkaufen müssen. Eine inklusive Regelschule in Form der Gemeinschaftsschule bis zur 10. oder 13. Klasse müsste in der politischen Auseinandersetzung erstritten werden und solange die Kräfteverhältnisse das nicht gestatten, verlangt der Weg zur Inklusion allen Beteiligten einen hohen Aufwand an nicht eben aussichtsreicher Arbeit ab.

Im Unterschied zu jenen EU-Ländern, in denen die Sonderbildungseinrichtungen konzeptlos aufgelöst worden sind, ist der Weg zur Inklusion hierzulande von einer gewissen Planmäßigkeit geprägt, auch, weil eine allgemeinbildende Schule zurzeit nicht für jedes Kind die beste ist. So verbleibt in Bremen, das mit großem Abstand als Spitzenreiter bei der Inklusion gilt, noch jedes einhundertste Kind in einer Sondereinrichtung; 2008 war es eines von 22 Kindern gewesen. Auch die Dimension der Herausforderungen wächst, da der GEW zufolge schon jedes vierte Kind in Gefahr ist, die schulischen Mindestanforderungen nicht erfüllen zu können. Daher ist es im Sinne aller Kinder, dass inzwischen ein nicht exklusiver – sozusagen inklusiver – Anspruch an Inklusion vorherrscht, der statt eines auf behinderte Kinder eingeschränkten Fokus nun auch besondere Bedürfnisse etwa von finanziell benachteiligten, multikulturell geprägten oder sozial-medial geschädigten Kindern berücksichtigt.

Noch auf ihrem Gewerkschaftstag 2013 hatte die Bildungsgewerkschaft für die Schulen neben einer Absenkung der Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte und der Klassenfrequenzen den Ausbau der Schulsozialarbeit, der psychologischen Beratung, der sonderpädagogischen Betreuung sowie eine Essensversorgung und umfassende Lernmittelfreiheit verlangt. Hintergrund war damals die Erfahrung, dass ein wertschätzender Umgang mit Vielfalt in einer Beschränkung auf den Unterricht nur scheitern kann und darüber hinaus alle Aspekte des Schullebens, der Pausengestaltung und des Nachmittagsangebots inklusiv geplant werden müssten. Von der Frühförderung bis zur Berufsschule müsse auch die Gebäudeausstattung denjenigen Kindern entsprechen, die Therapie-, Rhythmik- und Teilungsräume benötigen. Vier Jahre später lautet das Fazit der GEW-Bundesvorsitzenden Marlis Tepe, dass der politische Wille dazu fehlt.

Ein ganz großes Hindernis auf dem eingeschlagenen Weg sind auch Privatschulen. Dass sie laut einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (2016) überall grundgesetzwidrig betrieben werden, weil das Verbot der Auswahl von Schülern und Schülerinnen nach dem Elterneinkommen (Artikel 7 GG) in keinem einzigen Bundesland eingehalten wird, hindert eine wachsende Anzahl von Eltern nicht daran, ihre Kinder freiwillig dort anzumelden; hier wäre ein umfassenderes Verständnis von Verantwortung und Solidarität wünschenswert, also gerade solche sozialen Kompetenzen, die beim inklusiven Lernen besonders geschult werden. Die dafür geeigneten Arbeitsbedingungen und Lernumstände müssten GEW und ver.di (die auch einen Teil der Bildungsarbeiter organisiert) auf einem Gebiet durchsetzen, das dem Arbeitskampf zugänglich ist, dem der Arbeitsentlastung bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Falls nicht, wird der „emotionale(n) Rollback“, von dem ein Hamburger Kollege der Erziehung und Wissenschaft berichtete, das schon Erreichte gefährden.

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"Förderung für die Starken", UZ vom 16. Juni 2017



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