Am 2. Januar begann die „Südwestpresse“ aus Ulm das neue Jahr mit einer der leichtesten journalistischen Übungen: Sich über die SPD lustig machen. Die Zeitung meinte allerdings die Bundestagsfraktion und deren „Flügel“: Die als konservativ geltenden Seeheimer hätten „lange im Schatten der Linken“ gestanden. Zwischen beiden bewege sich die dritte Gruppierung, das „Netzwerk Berlin“. Nun gebe es einen faktischen Gleichstand zwischen Konservativen und Linken. Was das bedeute? „Die überraschende Antwort: Nicht viel.“ Die SPD sei auf dem Weg, „so zu werden, wie es die CDU war. Eine Partei, die sich um die Kanzlerschaft schart.“ Aus den Flügeln könnten bald Traditionsvereine werden. „Sicher weiterhin mit Spargelfahrten.“
In den vergangenen beiden Wochen schien das zum Irrtum zu werden.
Akt eins: Am 1. April, veröffentlichten „Berliner Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ den Aufruf „Frieden schaffen! Waffenstillstand und Gemeinsame Sicherheit jetzt!“. Initiiert hatten ihn der Historiker Peter Brandt, der frühere DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und der Ex-Bundestagsabgeordnete Michael Müller (SPD). Unterzeichner waren vor allem ehemalige Funktionsträger der Partei und des DGB. Ihre Forderung: Scholz solle zusammen mit Frankreich die Länder Brasilien, China, Indien und Indonesien dafür gewinnen, schnell einen Waffenstillstand in der Ukraine zu erreichen: „Das wäre ein notwendiger Schritt, um das Töten zu beenden und Friedensmöglichkeiten auszuloten. Nur dann kann der Weg zu einer gemeinsamen Sicherheitsordnung in Europa geebnet werden.“ Die deutschen Propagandamedien nahmen diese jüngste Friedensungeheuerlichkeit kaum zur Kenntnis.
Akt zwei: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich folgte am 12. April im „ARD-Morgenmagazin“ den Ansichten des Bankers Emmanuel Macron, im Nebenberuf französischer Präsident, zu Taiwan: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Partei in einem Großkonflikt zwischen den USA und der Volksrepublik China werden. Wörtlich: Daher „hat Macron recht“. Dem folgte ein Tritt vors Schienbein der Außenministerin, deren Besuch in China wohl schwierig werde: „Sie hat sich ja sehr – zumindest aus Sicht Chinas – undifferenziert in dieser Situation eingelassen.“
Akt drei: Am 14. April veröffentlichte der „Seeheimer Kreis“ ein „Strategiepapier“, in dem vor Habeck und Baerbock und einer deutschen „Anti-China“-Politik gewarnt wird: „Aktuell hangeln sich die Spitzen des Auswärtigen Amtes und des Bundeswirtschaftsministeriums von Einzelfall zu Einzelfall.“
Insbesondere grüne Freundinnen von Waffenlieferungen an Kiews Nationalisten und Faschisten warfen daraufhin flugs die Gebetsmühlen feministischer Außenpolitik an. Die Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger, im Januar laute Ruferin nach „Leoparden“ für Kiew, befand: „Ein intellektuell ziemlich dürftiger, naiver Aufschlag.“ Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt in der „Welt am Sonntag“: „Es besorgt mich, dass die SPD offenbar nichts aus ihrer für Deutschland fatalen Russland-Politik gelernt hat.“ Und so weiter und so fort.
Fazit: Der Friedensvorschlag kam nicht aus der SPD-Fraktion, kann also vom Kanzler ignoriert werden. Mützenich ging nicht auf Macrons Vorwurf ein, dass die USA auf einen Krieg um Taiwan hinarbeiten. Verbal ist aber auch der Kanzler für EU-Selbstständigkeit, nur nicht, wenn er in Washington ist. Der „Seeheimer Kreis“ wiederholt, was Scholz bei jedem öffentlichen Auftritt zu China sagt – irgendwas mit „Diversifizieren“ und „Auf die Lieferketten achten“. Das bisschen Geplänkel mit den Grünen macht sich von alleine weg.
Die „Südwestpresse“ hatte recht: Die SPD ist Kanzlerwahlverein und kennt nur noch den, keine „Flügel“ mehr. Traditionsvereine dürfen noch bei Bedarf vorgezeigt werden.