Flucht nach vorn

Klaus Wagener zum Labour-Manifest

Die Labour Party hat ein erstaunliches Dokument vorgelegt: Das „Labour Manifesto 2019“. Auf 107 Seiten verspricht Jeremy Corbyns Partei unter dem Slogan „Time for Real Change“ so etwas wie eine komplette Abkehr von der Wirtschafts- und Sozialpolitik seit Margaret Thatcher. Aber auch von der Politik von Tony Blair und Gordon Brown. Das wird allerdings nicht gesagt. Das Manifest will darüber hinaus einen „Kick-Start“ einer grünen industriellen Revolution ins Werk setzen, die eine Million neuer Jobs und die substantielle Mehrheit der Emissionreduktionen bis 2030 zu schaffen in der Lage ist.

Das umfassende und gleichzeitig sehr ins Detail gehende Manifest fungiert als Grundsatzpapier für die britischen Unterhauswahlen am 12. Dezember. Es gliedert sich in die fünf Abschnitte „Eine grüne industrielle Revolution“, „Wiederaufbau unseres öffentlichen Dienstleistungssektors“, „Armut und Ungleichheit angehen“. „Das letzte Wort zum Brexit“, „Ein neuer Internationalismus“. Labour will mit der Austeritätspolitik der Torys Schluss machen, die Energieriesen, das Stromnetz, die Wasserversorgung, die Post und das Breitbandnetz verstaatlichen. Das Kostenvolumen des Programms wird mit über 80 Milliarden Pfund beziffert. Das Manifest ist ein massiver Angriff auf nahezu alles, was neoliberale Politik der letzten 40 Jahre ausmachte – Tory- und Labour-Politik, wohlgemerkt. Es verkündet eine Art Re-Sozialdemokratisierung von Labour. Und es wäre im Falle seiner Realisierung ein gigantischer Erfolg – nicht nur für die britische Arbeiterbewegung.

Die Frage ist nur: Wie ernst ist das alles gemeint? Und wie stellt sich Labour die Durchsetzung eines solchen Programms vor?

Labour hat die Unterhauswahlen nicht gewollt. Sie sind aufgrund der Brexit-Blockade zustande gekommen. Labour taktiert in der Brexit-Frage und bezieht auch im Manifest nicht eindeutig Stellung. Der Verdacht liegt nahe, dass Labour bei seiner Taktik der Verschleppung und Verhinderung bleiben will. Jeremy Corbyn will Neuverhandlungen mit der EU und ein zweites Referendum innerhalb von sechs Monaten, aber er will nicht sagen, wofür Labour dabei steht. Das sieht angesichts der bisherigen Brexit-Erfahrungen nicht gerade plausibel aus. Labour liegt in den Umfragen deutlich hinten.

Angesichts des Desasters an der Brexit-Front hat Jeremy Corbyn offensichtlich die Flucht nach vorn angetreten: Er wechselt das Thema. Um bei den Wahlen in 14 Tagen überhaupt eine Chance haben zu können, musste Labour einen neuen, sehr starken Impuls setzen. Das ist mit dem Manifest nun geschehen.

Sollte Jeremy Corbyn wider Erwarten nicht nur die Wahlen gewinnen, sondern auch die Realisierung des Manifests versuchen, wird ihm ein bislang nicht gekannter, harter Wind entgegenwehen.

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"Flucht nach vorn", UZ vom 29. November 2019



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