Westliche Werte am Hindukusch nicht gefragt

Flucht aus Kabul

Am Sonntag sickerten Taliban-Kämpfer offenbar kampflos in die afghanische Hauptstadt Kabul ein und lösten dort bei zahlreichen Einwohnern und in den westlichen Hauptstädten Panik aus. Der Glaube an das Ende des mehr als 40-jährigen Krieges ist schwach, die Marionettenregierung des Westens zerfiel.

Es begannen hektisch organisierte Evakuierungsflüge für diplomatisches und einheimisches Personal, als am unfähigsten dabei erwies sich offenbar die deutsche Bundesregierung. Am Flughafen Kabul kam es zu dramatischen Szenen. Menschen stürzten aus großer Höhe von gestarteten Flugzeugen, an die sie sich festgeklammert hatten. Zusätzlich zu den 5.000 noch im Land stationierten US-Soldaten entsandte Washington tausend GIs zum Flughafen von Kabul. Einige von ihnen feuerten offenbar mehrfach in die Menge und töteten eine unbekannte Zahl von Menschen. Nur unter ihrer bewaffneten Deckung konnte in der Nacht zum Dienstag ein erster deutscher Militärtransporter vom Typ A400M Richtung Taschkent in Usbekistan starten.

In den vier Wochen, in denen die Taliban vorgerückt sind, hatten sich die Afghanische National-Armee (ANA) und die neu gebildeten Volksmilizen zum größten Teil kampflos ergeben. Die Soldaten der ANA sahen nicht mehr ein, sich – zum großen Teil ohne ausgezahlten Sold – für ein Regime zu opfern, das vom Ausland eingesetzt und gesteuert wurde.

Auswärtiges Amt und Kriegsministerium hatten buchstäblich bis zur letzten Minute behauptet, Afghanistan sei in Teilen sicher, es könne dorthin abgeschoben werden. Seit Sonntag machen sich SPD und CDU/CSU gegenseitig für die Niederlage auch des deutschen Imperialismus verantwortlich. Aber es gibt auch Rufe, die Gelegenheit für einen weiteren Schritt beim reaktionären Staatsumbau zu nutzen: Die CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter und Patrick Sensburg prangerten am Dienstag das Versagen der deutschen Geheimdienste an und forderten laut „faz.net“ die Zusammenlegung von Inlands- und Auslandsspionage. Kiesewetter erklärte, es müssten „Lehren aus den Erfahrungen in Afghanistan für die Organisation der Dienste“ gezogen werden. Sensburg sprach von einer „generellen Fehleinschätzung der Lage über Jahre“ – und da beziehe er alle Geheimdienste ein. „Sie haben die Stärkeverhältnisse im klassischen militärischen Denken aufgezeigt, alle Daten und Fakten waren richtig, aber die Analyse hat nicht gepasst.“

In den deutschen bürgerlichen Medien und den Parteien, die im Bundestag stets für die Teilnahme der Bundeswehr am US-Krieg in Afghanistan gestimmt haben, herrschen Wut, Entsetzen und Fassungslosigkeit. Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet kündigte in den ARD-“Tagesthemen“ am Montag eine „schonungslose“ Aufarbeitung dazu an, warum die Lage in Afghanistan auch von der Bundesregierung falsch eingeschätzt wurde. Die Schuld suchte er ebenso wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere woanders. Laschet behauptete, im Fall Afghanistan sei Deutschland fast ausschließlich von der Entscheidung der Amerikaner abhängig.

Bereits in ihren Montagausgaben hatten „Süddeutsche Zeitung“ und „Bild“ das historische Foto eines niederländischen Reuters-Fotografen vom 29. April 1975 aus dem damaligen Saigon veröffentlicht, das Menschen zeigt, die sich auf einer Dachtreppe vor einem gelandeten US-Hubschrauber drängen. Damals feierte die fortschrittliche Welt: „Saigon ist frei“, der damalige Völkermord der USA hatte ein Ende. Von einer ähnlichen Stimmung kann 2021 keine Rede sein, allerdings hat das Debakel des Imperialismus vergleichbare Ausmaße. Nach fast 20 Jahren Verwüstung eines der ärmsten Länder der Welt, das aber militärstrategisch von Interesse ist, verlassen die größte Militärmacht der Welt und ihre Verbündeten in wilder Flucht das von ihnen angerichtete Chaos. „FAZ“-Mitherausgeber Berthold Kohler fasste es am Dienstag unter der Überschrift „Deutschlands Vietnam“ so zusammen: „Nicht allein Amerika scheiterte in Afghanistan. Auch am deutschen Wesen ist es nicht genesen.“ Ein kleiner Trost.

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"Flucht aus Kabul", UZ vom 20. August 2021



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