Die letzte Gruppe der 842 haitianischen Migranten, die am 24. Mai bei dem Versuch mit einem überladenen Holzschiff in die USA zu gelangen, auf Kuba angelandet waren, ist am vergangenen Sonnabend wieder in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince eingetroffen. Wie die kubanische Agentur „Prensa Latina“ am Wochenende berichtete, hatten sich die Flüchtlinge freiwillig zur Rückkehr entschlossen, nachdem sie in Kuba zunächst untergebracht und medizinisch versorgt worden waren. Die Behörden der Provinz Villa Clara hätten dann Kontakt mit den zuständigen Partnern in Haiti aufgenommen, um die „sichere und freiwillige Rückkehr gemäß den internationalen Migrationsabkommen, die Kuba unterzeichnet hat, sicherzustellen“, hieß es.
Die Migranten, darunter schwangere Frauen, Kinder und ein erst einen Monat altes Baby, waren vier Tage lang auf dem Meer herumgeirrt, bevor sie von der kubanischen Küstenwache gesichtet und nahe dem Ort Caibarién an Land gebracht wurden. Die aus Seenot Geretteten erklärten, dass der Kapitän pro Person 4.000 Dollar für die Überfahrt an die US-Küste kassiert hatte. In schwerem Wetter hätten er und der Steuermann die Passagiere im Stich und das nicht hochseetaugliche Schiff treiben lassen. Darauf sei Panik ausgebrochen, die Flüchtenden hätten mit Lichtsignalen Hilfe angefordert, einige seien über Bord gesprungen, berichtete der 19-jährige Haitianer Joyce Paul in einem Gespräch mit dem kubanischen Fernsehen. Er bedankte sich im Namen aller für die Behandlung, das Engagement der Behörden und die Solidarität der Bevölkerung in der Ortschaft Sierra Morena, in der die Schiffbrüchigen untergebracht waren. Zuvor hatte Joyce Paul erklärt, er habe wie andere Landsleute vor Gewalt und Armut in seinem Heimatland fliehen wollen. Bewaffnete Banden hätten sein Haus niedergebrannt und zwei seiner Schwestern getötet, berichtete der junge Haitianer.
Seitdem Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 von einem Killerkommando ermordet wurde, hat sich die politische, wirtschaftliche und soziale Krise in dem knapp 11,5 Millionen Einwohner zählenden ärmsten Land des Kontinents weiter verschärft. Als Ergebnis von Korruption, Gewalt und Naturkatastrophen leiden mehr als 4,4 Millionen Menschen an Unterernährung, während Zehntausende durch kriminelle Banden gezwungen wurden, aus ihren Häusern zu fliehen. „Im Juni 2021 begannen Bandenkämpfe um die Kontrolle von Martissant, einem Gebiet, das Port-au-Prince mit den vier südlichen Departements verbindet, und zwangen mehr als 20.000 Menschen, ihre Häuser und ihr Hab und Gut zu verlassen“, berichtet „Prensa Latina“. Laut dem „Center for Analysis and Research in Human Rights“ (CARDH) kontrollieren die Banden inzwischen mindestens 60 Prozent des Landes. „Der Staat greift nicht ein, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, und die internationale Zusammenarbeit spielt die Karte der Ignoranz“, klagt die Organisation. Und seit Monaten verschlechtert sich die Lage weiter. „Die mächtigen Banden in Haiti, die mit politischen und wirtschaftlichen Kräften verbunden sind, scheinen an Stärke und Einfluss zu gewinnen“, heißt es in einer Analyse des Forschungsinstituts International Crisis Group. Allein in der Hauptstadt Port-au-Prince gibt es laut einem Bericht des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF 95 Banden, die rund ein Drittel des Stadtgebiets kontrollieren. Vor allem „Entführungen, gefolgt von Folter und Vergewaltigung, nehmen ein ungeahntes Ausmaß an, verletzen die Würde der Bürger und stürzen sie in bittere Armut, wobei Hunderttausende US-Dollar als Lösegeld verlangt werden“, so CARDH.
Dazu trifft der Klimawandel das Land besonders hart. Laut dem Globalen Klima-Risiko-Index der NGO Germanwatch waren Haiti, Puerto Rico und Myanmar zwischen 2000 und 2019 die am stärksten von extremen Wetterereignissen betroffenen Staaten. Im August vergangenen Jahres erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,2 das Land. 2.200 Menschen starben, fast 13.000 wurden verletzt, zehntausende Hütten und Häuser verwüstet. Kurz darauf traf Hurrikan „Grace“ mit heftigen Regenfällen die Region und verstärkte nochmals die Not.
Angesichts zunehmender Probleme wie Armut, Hunger und Unsicherheit fordern die Vereinten Nationen regionale und globale Ansätze zur Migrationsfrage in Haiti, die die Menschenrechte und das Schutzbedürfnis der Betroffenen respektieren. Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR erklärte in der vergangenen Woche seine Besorgnis über die wachsende Zahl von Flüchtenden aus Haiti und forderte die Nachbarländer dazu auf, ihrer humanitären Verantwortung nachzukommen und Menschen in Seenot zu retten. Wie der Nachrichtensender „Telesur“ am 24. Mai meldete, haben allein die USA in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits mindestens 8.500 Haitianer abgeschoben.