Wochenlang beschallten uns die Medien mit Erfolgsmeldungen, dass die Zahl der Armen weltweit sinke und dass im Jahr 2000 von der UNO ausgerufene „Millenniumsziel“, die Armut in der Welt bis 2030 zu besiegen, in greifbare Nähe gerückt sei. Wer die Statistik bestellt, der bestimmt ihre Aussage, und so durften wir nicht erfahren, dass der relative Rückgang extremer Armut in erster Linie auf den nachhaltigen Anstrengungen Chinas und einiger lateinamerikanischer Länder beruht – also Staaten mit differenzierter, aber im Kern sozialistischer Orientierung. Und dann wurde das Thema wieder diskret begraben.
Mit einem Paukenschlag hat die Hilfsorganisation Oxfam jetzt die Diskussion neu befeuert. Die Aussage, dass 62 Personen ebensoviel Vermögen besitzen wie die ärmsten 3,6 Milliarden der Menschheit ist so konkret, dass sie viele zusammenzucken lässt. Es ist eine überschaubare Zahl, die 62 würden gut in einen Omnibus passen. Die Bauchredner des Kapitalismus werden jetzt sagen, dass die Reichsten zwar den größten Nutzen aus dem Wachstum des Reichtums ziehen, dass aber die Welt insgesamt reicher werde, was schließlich allen nütze. Doch das ist nicht wahr: Vor fünf Jahren waren es noch 388 Superreiche, deren Vermögen das der Hälfte der Menschheit erreichte, und seither ist die Zahl der Ärmsten noch um 400 Millionen gewachsen.
Die Zahlen sind eine nachdrückliche Bestätigung dafür, wie recht die Occupy-Bewegung mit ihrer Losung hatte, wenn sie dem „einen Prozent“, das die Welt unter sich aufgeteilt hat, die Kraft der 99 Prozent gegenüberzustellen versuchte. Doch die Occupy-Bewegung hat leider ihren Höhepunkt offenbar schon überschritten, wie das Bewegungen geht, die keine konkreten Vorstellungen von der anderen, der möglichen Welt entwickeln und davon, wie der Weg dahin freizukämpfen ist. Mark Goldring, der Oxfam-Chef, beklagt, dass die Kritik an der Ungleichheit noch nicht in konkrete Maßnahmen umgesetzt wurde. Das wäre nötig, man muss dazu aber im Auge haben, dass die Konzentration von immer größerem Reichtum in immer weniger Händen im System des Kapitalismus wurzelt. Sie ist die logische Folge eines vom Profitstreben angetriebenen Wirtschaftens.
Die Zukunft dieses Wirtschaftens steht im Mittelpunkt des Treffens der „Eliten“ dieser Welt in den Schweizer Alpen. 2 500 Vertreter der reichsten und mächtigen Industriestaaten veranstalten von Mittwoch bis Samstag dieser Woche ihr „Weltwirtschaftsforum“. Noch nie habe es eine „so breit gefächerte Risikolandschaft“ gegeben, heißt es in einem Bericht, den das Forum bereits eine Woche vor dem Veranstaltungsbeginn in London vorgelegt hat. Massenflucht, Kriegsrealität und zum Himmel schreiende soziale Zustände sind aber exakt die Ergebnisse ihrer Politik.
Ihre Lösungsansätze werden nicht die Interessen der übergroßen Mehrheiten der Menschen bedienen, sondern nur die der 62. Von den Wirtschaftseliten ist zu erwarten, dass sie auch weiterhin genau das tun, was zu dem wirtschaftlichen Elend von Millionen geführt hat.
Sie brauchen dazu politische Vertreter, die ihre Interessen durchsetzen, ohne dass die Gegenwehr zu groß wird. Vor einem Jahr stimmte die Mehrheit der griechischen Bevölkerung für eine scheinbare Alternative zur von der EU verordneten Verarmungs- und Umverteilungspolitik. Die linke griechische Regierung setzt inzwischen dieselbe Politik um wie ihre Vorgängerinnen – mit dem Stimmzettel allein ist die diese Politik nicht aufzuhalten. Nach den Vorgaben der EU soll die griechische Rentenversicherung geschleift werden – 30 Prozent Einbußen drohen. Die sich in der BRD abzeichnende Altersarmut als Normalzustand für die Durchschnittsrentner scheint dagegen noch ein sozialromantisches Traumbild zu sein.
Wohltätigkeitsorganisationen wie Oxfam leisten eine wichtige Arbeit. Sie retten viele Leben – über Tage, Monate, oft über Jahre. Aber viele Jahrzehnte organisierter Wohltätigkeit haben das Elend und die Ungleichheit nicht einmal angekratzt. Gegen die Gewalt gegen das Leben ist organisierter Widerstand und Kampf nötig in allen denkbaren Formen. Und wo andere Mittel nicht helfen, auch Gegengewalt.