Den Willi Sitte kennt wohl die ganze Republik“. Dieser Satz stammt aus „Neues Deutschland“ vom 15. Oktober 1972. Er wird in einem Katalog des Kunstvereins Hamburg zitiert, aber er bezieht sich nicht auf die Bundesrepublik.
Dort war das ganz anders. „In der Bundesrepublik ist Willi Sittes Werk, weil es hier kaum gezeigt wurde, nur wenigen bekannt.“ Uwe M. Schneede benötigte, um den Maler im Frühjahr 1975 in Hamburg vorzustellen, außer der Vermittlung durch die DKP („Der Kunstverein in Hamburg dankt dem Parteivorstand der DKP, der die Verwirklichung der ihm zur Verfügung gestellten Sitte – Ausstellung dem Kunstverein übertragen hat“) noch eine gewisse Portion Mut. Schneede: „Die Betrachter gingen von einer vorgefassten Vorstellung aus, die platte Propagandabilder meinte, sich aber mit der Praxis des heutigen sozialistischen Realismus nicht deckt.“ Der Kurator versäumte nicht, auf die unterschiedliche Funktion der Kunst im Sozialismus und im Kapitalismus hinzuweisen.
„Da es keinen Kulturvertrag gab, hätten staatliche Museen das nicht machen können“, sagte Schneede. „Das musste der Kunstverein als Privatinstitution tun.“ Und präsentierte insgesamt 119 Gemälde und Zeichnungen von Sitte.
Im Jahr 1965, also zehn Jahre zuvor, hatte unser Genosse Richard Hiepe schon einmal Werke von Sitte in seiner Neuen Münchener Galerie vorgestellt.
Ein Antifaschist
Geboren wurde Willi Sitte am 28. Februar 1921. Die Familie war im nordböhmischen Kratzau zu Hause, der Vater zunächst Zimmermann, später Gemüsebauer, Mitbegründer der tschechischen KP. Willi Sitte zeichnet schon als Kind viel und begeistert. Er kopiert Grafiken von Dürer, Cranach, Tizian und Michelangelo. Früh wird seine Begabung erkannt. 1936 nimmt ihn die Kunstschule in Reichenberg (Liberec) auf. Er tritt in den Kommunistischen Jugendverband ein, protestiert gegen den Anschluss des Sudetenlandes. 1940 wird er an die Meisterschule für Malerei in Kronenburg/Eifel empfohlen. Zeichnungen Sittes aus jener Zeit lassen laut Wolfgang Hütt noch die Eigenart des akademischen Naturstudiums und die dem 19. Jahrhundert entstammende Manier der Düsseldorfer Malerschule erkennen. In den dreißiger Jahren war die Kronenburger Meisterschule zunächst als Außenstelle der Düsseldorfer Kunstakademie gedacht, wurde dann aber zum elitären Privatinstitut von Werner Peiner. Der zog seine Studenten zu Hilfsarbeiten an den Gobelins für Hitlers Reichskanzlei heran. Zu den Protestierenden gegen diese Form der Ausbildung gehörte Willi Sitte. Prompt folgte die Relegation. Sitte wurde zur Wehrmacht eingezogen. Nach einem Lazarettaufenthalt wegen Gelbsucht wird er von der Ostfront nach Italien versetzt. Er kann 1945 hier desertieren und zu den Partisanen wechseln.
Daraus entstehen lebenslange und enge Verbindungen. Jahrzehnte später, am 30. September 2008, wird ihn der Rat der Gemeinde Montecchio Maggiore (Nähe Vicenza) zum Ehrenbürger ernennen und eine Ausstellung mit Werken des Malers organisieren. Ein Saal des Rathauses trägt heute seinen Namen.
Sitte bleibt nach der Befreiung noch bis 1946 in Italien und stellt in Mailand aus. Er kehrt zurück, erst nach Böhmen, dann als zunächst tschechischer Staatsbürger in die SBZ, die spätere DDR. Er tritt 1947 der gerade gegründeten SED bei, arbeitet als Künstler und lehrt ab 1951 an der Kunstschule Burg Giebichenstein, seit 1959 als Professor.
Neue Formensprache
1954 gibt es eine Ausstellung des italienischen Malers Renato Guttuso in Halle, die ihn sehr beeindruckt haben muss. Picasso und Leger sind weitere Bezugsgrößen für Sittes Entwicklung, die bis in die sechziger Jahre hinein immer wieder zu öffentlichen Debatten über formalistische Neigungen des Malers führt. Manches Argument aus solchen Debatten erscheint uns heute fremd. Sie waren indes Begleiterscheinungen des Gewichts, das Musik, Kunst und Literatur in der Öffentlichkeit der DDR genossen, ein Resultat einer durchaus anderen Funktion der Kunst im Sozialismus.
Aber da ging es nicht allein um Geschmacksfragen mit nicht selten einschneidenden politischen Folgen für die Künstler.
Nur ein Beispiel. Die Verbindlichkeit des euklidischen Systemraums, auf dessen Vorstellung noch die klassische Perspektivlehre seit dm 15. Jahrhundert, seit Leon Battista Alberti aufbaute, ist nicht allein von den Kubisten wie Braque und Picasso aufgekündigt worden. Ohnehin konnte die Zentralperspektive die Widersprüche des sphärischen Sehfeldes, wie es das Auge bietet, zur Projektion des Gesehenen auf eine plane Fläche zu keiner Zeit lösen. Nicht erst in unserem Jahrhundert beruhen vielfältige technische Veränderungen der sozialen Wirklichkeit auf physikalischen Erkenntnissen, die solche Vorstellungen eines homogenen Raumes längst hinter sich gelassen haben. Aber sie schaffen in der Folge auch Veränderungen im individuellen Empfinden der Subjekte. Und nicht nur im Kapitalismus entfaltet sich die Arbeitsteilung, werden Arbeits- und Produktionsprozesse zerlegt.
Die Quantenphysik ebenso wie astronomische Erkenntnisse sowie der sich rapid entwickelnde Gerätepark für Mobilität und Kommunikation haben neue ästhetische Deutungen des Raums entstehen lassen. Wanderstiefel, auch noch die Postkutsche, vermitteln eine andere Landschaft samt Raumgefühl als eine Fahrt mit der Eisen- oder U-Bahn. Das Telefon gar lässt sie ganz verschwinden. Nicht nur Sittes Werk war davon betroffen. Aber er gehört zu den Künstlern der DDR, die neue Formensprachen durchsetzen konnten. Und nicht nur in der DDR. Wir erinnern uns der Sensation, als 1977 auf der Kasseler Documenta eine repräsentative Auswahl moderner DDR-Kunst gezeigt wurde. Sitte war dabei. Er war zu diesem Zeitpunkt schon Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR (1974 – 1988) und verkörperte den Erfolg neuer ästhetischer Positionen realistischer Kunst.
„Mir ging es vor allem darum, Ereignisse, die in der Welt geschahen, irgendwie festzuhalten. Das habe ich gemacht.“ Er ist schon 88 Jahre alt, als er diesen Satz sagt.
Weltereignisse? Das sind zunächst die naheliegenden Gegenstände und Bildthemen – ein schlafendes Paar, Porträts, Akte in der Brandung. Aber es geht ihm auch selbstverständlich um Geschichte und sozialistische Perspektiven. „Memento Stalingrad“ heißt ein Bild von 1961. Der Werkkomplex zu „Lidice“ entsteht in den Jahren 1957 bis 1960. Sitte nimmt Stellung zur „Hochwasserkatastrophe am Po“ (1953). 1966/67 malt er den „Höllensturz in Vietnam“, das Triptychon „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit“ 1973/74, „Sie wollten nur Lesen und Schreiben lehren“ (1985/86).
Derartig politische Stoffe gehen allerdings weit über das hinaus, was die amtliche Kultur der Bundesrepublik bereit ist zu ertragen. Was vor der Wende oder, genauer, der Konterrevolution, noch möglich war und im Westen gezeigt werden konnte, wird nach ihrem Vollzug zum Verbrechen. Es geht noch zehn Jahre danach um die Frage, „welche Kunst aus der DDR-Zeit dem Publikum überhaupt noch zuzumuten sei“. (Paul Kaiser in „Sittes Welt“, Katalog der Retrospektive, Halle 2021, S. 15)
Rachsucht
Unzumutbar war eine Sitte-Ausstellung im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum im Jahr 2001. Sie war lange geplant. Der Bundeskulturbeauftragte Michael Naumann regte an, die Ausstellung zu „verschieben“. „Die Zeit“ deutete das als „infantile Rachsucht, mit der noch immer die sozialistische Kunst der DDR nach den Mustern des Kalten Krieges behandelt wird“. Der „Spiegel“: „Offenbar fürchtete Bayerns Kunstminister Hans Zehetmair, Vorsitzender der Aufsichtsinstanz, Schelte für eine allzu kuschelige Sitte-Hommage.“
Eduard Beaucamp, lange Jahre kunstzuständig in der „FAZ“, konnte aber im Oktober 2010 feststellen, dass „nicht eingetroffen ist, was ihre Feinde nach 1989 so innig erhofften: dass mit dem Untergang der DDR auch ihre Kunst alsbald entsorgt werde und verschwinde“.
Die Gründe? Sie liegen beim Publikum. Es will partout nicht auf die DDR-Kunst verzichten.
So wurde diesem Publikum denn doch noch vom 3. Oktober 2021 bis zum 9. Januar 2022 eine umfängliche Retrospektive Willi Sittes im Kunstmuseum Moritzburg in Halle/Saale organisiert, fast pünktlich zum 100. Geburtstag des Künstlers. Eine schöne Ausstellung, umfassend.
Die fälligen Vorbehalte rutschen in Details seiner Biografie. Das Kapitel im Katalog S. 103 ff. heißt im Untertitel: „Herkunft und Widerstand einer kommunistischen ‚Musterbiografie‘ Willi Sittes“. Am Ende schreiben die Autoren Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser: „Es kann an dieser Stelle aber bereits klargestellt werden, dass die Verfälschung biografischer Daten nicht nur zum elaborierten Status eines antifaschistischen Widerstandskämpfers verhalf, sondern ihn auch bei der Etablierung seiner künstlerischen und kulturpolitischen Karriere in eine komfortable Ausgangslage versetzte.“ Gisela Schirmer schreibt dazu (im Jahrbuch „Kunst und Politik“ 2021 der Guernica-Gesellschaft, S. 171 ff.): „… das heißt, Willi Sitte habe sein Leben als Künstler und Kunstpolitiker in der DDR auf einer Lüge aufgebaut“ und widerlegt diese Darstellung, wie sie die beiden Autoren in einer weiteren Veröffentlichung vornehmen, Titel: „Willi Sitte, Künstler und Funktionär – Ein biografische Recherche“, Dresden, Halle (Saale) 2021.
Unter anderem geht es darum: Wann ist Willi Sitte in Italien desertiert? Das CLN, das Comitato di Liberazione Nazionale, stellte zwei Passierscheine für Willi Sitte aus. Der erste vom 12. Mai 1945 bestätigt die Desertion, enthält aber kein Datum. Der zweite mit Datum vom 18. Mai 1945 nennt den 11. April 1945, bestätigt zudem die Unterstützung der Partisanen. Wörtlich: „Seit Oktober 1944 stand Willi Sitte in Verbindung mit diesem Befreiungskomitee und arbeitete mit ihm zusammen für die Befreiung Italiens von den Nazifaschisten, indem er half, Waffen und militärische Nachrichten zu besorgen und auch Hilfsgüter an die einheimischen Partisanen zu liefern, die von der SS gefangengenommen waren. Hiermit wird bestätigt, dass dies die ganze Wahrheit ist.“
Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser akzeptieren diese Aussage aber nicht als authentisch. Schirmer: sie „wollen glauben machen, dafür hätte letztlich ‚auf Respekt gegründete Sympathie, verstärkt noch durch die Anerkennung des künstlerischen Talents des jungen Mannes‘ den Ausschlag gegeben. Der zweite Passierschein sei für Willi Sitte entscheidend gewesen, da für eine Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes seine Desertion zwei Wochen vor Kriegsende nicht ausgereicht hätte. Um es deutlich zu sagen: Sie unterstellen, dass Sitte kurz nach Kriegsende bereits seine Karriere in Ostdeutschland geplant und sich den Passierschein ergaunert habe.“
Immerhin reicht diese Unterstellung für einen tiefen Blick ins Seeleninventar der beiden Autoren. Schirmer zitiert Peter Arlt: „Als hätte Willi Sitte sein Agieren mit solch einer Bürokratenseele vorgenommen.“
Dem Karrieredenken bleibt der Antifaschismus unverständlich und fremd.