Wenn Fragen der Immigration die Debatte über den Austritt Britanniens aus der EU bestimmen, ist das nicht nur schlecht für die Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen in der Gesellschaft, es ist auch schlecht für all jene, die darauf aus sind, dass die Bürger eine wohlüberlegte Entscheidung bei der Abstimmung am 23. Juni treffen. Die EU-Mitgliedschaft betrifft mehr Fragen als nur die auch nicht unwichtige, wie viel Menschen jedes Jahr nach Britannien einwandern können oder sollten. Deshalb entschuldigen wir uns auch nicht dafür, wenn wir solche anderen Fragen aufwerfen:
• Wie und in wessen Interesse funktioniert die EU?
• Was bedeutet sie für die Arbeitsplätze, Lebensstandard und Lebensqualität?
• Fördert oder behindert die EU-Mitgliedschaft eine ausgewogene und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, die den Interessen der arbeitenden Bevölkerung, ihren Familien und ihren Gemeinschaften entspricht?
In der Vergangenheit haben wir uns scharf gegen die neoliberale und monetaristische Wirtschaftsdoktrin gewandt, die in den Grundlagenverträgen der EU verankert sind. Der verstorbene (Labour-Vorsitzende) Tony Benn hat schon darauf hingewiesen: „Die EU hat die einzige Verfassung in der Welt, die den Kapitalismus festschreibt… Sie zerstört überall in Europa jede Aussicht auf Sozialismus und macht den Kapitalismus zur Grundlage ihrer Struktur.“ Derartige Strukturen erfordern, dass die entscheidende Macht in der Hand von nichtgewählten und nichtrechenschaftspflichtigen Körperschaften liegt – nämlich der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Gerichtshofs. EU-Befürworter weisen auf den nicht gewählten britischen Beamtenapparat, die Bank von England, das nicht gewählte Oberhaus, das oberste Gericht und die Monarchie hin. Aber bei all dem gibt es einen Unterschied: diese Institutionen sind nicht verfassungsmäßig dem Zugriff unserer gewählten Volksvertreter entzogen. Sie können reformiert und sogar abgeschafft werden.
In der letzten Regierungserklärung (dem Queen’s Speech) hat die konservative Regierung in naher Zukunft eine Erklärung der Grundrechte für Großbritannien in Aussicht gestellt. Was wäre, wenn diese „Bill of Rights“ festlegen würde, dass dieses Land eine „Wettbewerbsmarktwirtschaft“ haben müsse, die auf der Freiheit des Kapitalverkehrs, der Waren und der Dienstleistungen basiert? Und in der alle Schritte in Richtung einer Planwirtschaft ungesetzlich wären? Und wo es den Parlamenten von Westminster, Edinburgh oder Cardiff nicht gestattet wäre, Kapitalbewegungen innerhalb der Grenzen oder über die Grenzen des Landes hinweg zu behindern? Wie wäre es, wenn es gewählten Regierungen verboten würde, „übermäßige Haushaltsdefizite“ zuzulassen, Unternehmen (öffentlich oder privat) aus strategischen, sozialen oder ökologischen Gründen zu subventionieren? Wie wäre es, wenn es Regierungen verboten würde, die Mittel der Zentralbank einzusetzen, um Investitionsprojekte zu fördern?
Tatsächlich würde eine solche „Bill of Rights“ festschreiben, dass die Zentralbank vom Parlament und von der Regierung vollkommen unabhängig zu sein habe und zwar durch eine Verfassung, die praktisch nur einstimmig gekippt werden könnte. Eine solche neue konservative Verfassung würde der Verwaltung ganz neue Rechte zugestehen, etwa das Einbringen von Gesetzesvorschlägen, die Aufstellung des Staatshaushaltes, die Überwachung der britischen, schottischen und walisischen Regierung bei Neuverschuldung und Schuldenhöhe nach eng definierten Grenzen. Die Verwaltung könnte dann auch in den Gesetzgebungsprozess eingreifen, sich an einzelne Parlamentsangehörige wenden und Untersuchungsausschüsse verhindern. Als verfassungsmäßiger Imperativ würde dann eine Politik gelten, die mit der Politik der NATO übereinstimmt. Und sie müsste dann auch zur „Vitalität einer erneuerten atlantischen Allianz“ beitragen.
Wer unter britischen Linken würde einer solchen „Bill of Rights“ zustimmen? Genau solche Regeln finden sich aber in den beiden Grundlagenverträgen der EU und binden alle ihre Mitgliedsstaaten. Solchen Regeln würden Sozialisten und Gewerkschafter zustimmen, wenn sie sich am 23. Juni für den Verbleib in der EU aussprächen.
Der Text erschien als Leitartikel am 30.5.2016
in der britischen linken Tageszeitung „Morning Star“,
die sich nach eigenen Angaben der KP Britanniens verbunden fühlt.