Der Grat, auf dem sich die deutsche Chinapolitik bewegt, wird immer schmaler. Kein Wunder: Allzu widersprüchlich sind die Interessen, die sie bedienen muss. In einer Zeit, in der die Spannungen zwischen dem Westen und der Volksrepublik rasant steigen, wird es immer schwieriger, sie zu verbinden. In der Bundesregierung ruft das derzeit Streit hervor.
Da ist zum einen das Interesse, Peking nicht noch mehr an Stärke gewinnen zu lassen – schließlich wäre eine Weltmacht China mit weiterem Machtverlust für Berlin verbunden. Was tun? Die USA setzen unter anderem darauf, den Streit um Taiwan eskalieren zu lassen. Nicht zuletzt mit einer Besuchskampagne werten sie Taipeh Schritt um Schritt auf. Und für den Fall, dass Peking zu dem Schluss kommen sollte, dies mache eine friedliche Wiedervereinigung mit der Insel abschließend unmöglich und lasse militärische Schritte unvermeidlich werden, trainieren die USA taiwanische Soldaten in asymmetrischer Kriegführung gegen einmarschierende Truppen und rüsten sie entsprechend auf. Man kennt das Muster aus der Ukraine. Berlin beteiligt sich – noch? – kaum an Taiwans Aufrüstung, unterstützt aber tatkräftig die US-Besuchskampagne: Für Anfang 2023 hat sich mit Bildungs- und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger erstmals seit 26 Jahren wieder ein Mitglied der Bundesregierung in Taipeh angekündigt; das soll, wie die diversen US-Besuche, Peking provozieren und demonstrieren, wer auf der Welt das Sagen hat.
Zum anderen besteht das Interesse mächtiger Segmente der deutschen Industrie an nicht nur der Wahrung, sondern auch am Ausbau des Chinageschäfts fort. Beispiel Chemie: Die Volksrepublik wird nach Schätzung von Experten schon um 2030 für rund die Hälfte des globalen Chemiemarktes stehen. Kann man darauf verzichten? Deutsche Konzernbosse wie BASF-Chef Martin Brudermüller meinen: nein. Autokonzerne wie VW, Mercedes oder BMW verzeichnen rund ein Drittel ihres Absatzes, teilweise gar mehr, in der Volksrepublik. Gravierender noch: China ist globaler Leitmarkt bei Elektromobilität; wer Forschung und Entwicklung nicht dort betreibt, ist in der Weltkonkurrenz schnell abgehängt. Kein Wunder, dass führende Fraktionen der deutschen Industrie mit all ihrer Macht darauf dringen, dem US-Wirtschaftskrieg gegen die Volksrepublik fernzubleiben. „China ist nach wie vor für uns ein wichtiger Wirtschaftsraum“, stellte Ende 2022 DIHK-Präsident Peter Adrian fest und mahnte: „Von Teilen der Bundesregierung wünschen wir uns mehr Pragmatismus und weniger Ideologie.“
Damit zielte Adrian nicht zuletzt auf das Auswärtige Amt, das derzeit unter seiner grünen Ministerin Annalena Baerbock nicht bloß eine Nationale Sicherheitsstrategie, sondern auch eine neue Chinastrategie erstellt. Nach allem, was man weiß, seit Informationen über die Entwürfe zu beiden Papieren von interessierter Seite durchgestochen wurden, finden sich in ihnen aggressive antichinesische Spitzen zuhauf – ganz nach dem Geschmack deutscher Transatlantiker, die darauf verweisen können, bereits im ersten Kalten Krieg sei die Bundesrepublik als Juniorpartner der USA gut gefahren und reich geworden. Aber gilt dies auch für die gegenwärtigen Machtkämpfe, in denen der Westen seinen globalen Abstieg abzuwenden sucht? Vor allem im Kanzleramt gibt es ernste Zweifel. „Chinas Aufstieg“, so schrieb Olaf Scholz vor kurzem in der US-Zeitschrift „Foreign Affairs“, biete „weder eine Rechtfertigung für die Isolation Pekings noch für eine Einschränkung der Zusammenarbeit“. Baerbocks Entwurf für die Nationale Sicherheitsstrategie hat er vorläufig kassiert.
Ob das reicht, um von dem schmalen Grat nicht abzustürzen, der – noch – zwischen heftiger Taiwan-Agitation an der Seite der USA und der Teilnahme am Leitmarkt für Elektromobilität begehbar ist? Die Frage ist für die Berliner Außenpolitik eine der wohl bedeutendsten im beginnenden Jahr 2023. Die vorläufige Antwort wird man im Lauf des Jahres beobachten können.