Es weihnachtet sehr und am 24. Dezember entdecken wieder Abertausende, dass sie Christen sind, und schlurfen zum „Oh Tannenbaum“-Singen in die Kirchen quer durch die Republik. Ich, katholisch getauft und ausgetreten, war vor über 25 Jahren das letzte Mal in einem Gottesdienst. Zeit also, zu überprüfen, ob ich nicht etwas verpasse. Ein katholischer oder evangelischer Gottesdienst wäre dazu aber zu fad. So entschied ich mich für die „Christus-Gemeinde“ in Wuppertal. Die evangelikale Sekte ist um einiges hipper als die staatstragenden Kirchen. So predigt „der breiteste Pastor Deutschlands“ (Pro7-Pseudowissenschaftssendung „Galileo“) dort. Der tätowierte Bodybuilder sieht eher nach „Inkasso-Christus“ aus als nach einem Verkünder der „frohen Botschaft“. Leider war er vergangenen Sonntag, als ich den Selbstversuch startete, nicht an der Reihe.
Die „Christus-Gemeinde“ trifft sich in einer ehemaligen Fabrikhalle. Anscheinend hat sie ähnliche Mitgliederprobleme wie die großen Kirchen. Die halbe Halle ist mit Trennwänden abgesperrt, damit es voll aussieht. Vor den Stuhlreihen ist eine Bühne aufgebaut. Man sieht ein Wohnzimmer, eingerichtet wie aus dem Ikea-Katalog. An den Seiten sind große Bildschirme angebracht. Zwei Männer und eine Frau spielen im Wohnzimmer eine Familie, die gerade dabei ist, den Tisch für das Weihnachtsessen zu decken. Die Mutter fehlt, weil sie gerade in der Küche die Weihnachtsgans zubereitet, erklärt der Vater beiläufig. Genauso beiläufig werden Inhalte vermittelt. Vater, Sohn und Tochter unterhalten sich und der Sohn erzählt, dass sich Menschen in den USA aufgeregt hätten, weil Starbucks-Mitarbeiter „X-Mas“ statt „Christmas“ auf die Becher geschrieben hätten. Er könne die Menschen schon irgendwie verstehen, sein Vater und seine Schwester stimmen zu. Unterbrochen wird das Schauspiel immer wieder und sehr unvermittelt singen Menschen auf der Bühne und es werden kleine Einspieler auf den Bildschirmen gezeigt. Als eine hochschwangere Frau im goldenen Glitzerkleid über die Bühne tanzt, wirkt die Szenerie eher verstörend. Meinen Nicht-Glauben öffentlich bekundet hätte ich beinahe, als der Sohn sich an das Publikum wendet und über den spricht, der den Frieden brachte. Eingelullt von der Show, will ich spontan „Lenin!“ rufen. Ich kann mich aber gerade noch zurückhalten.
Nach Schauspielerei, Filmchen, Singen und Tanzen betritt ein Mann die Bühne. In Röhrenjeans, T-Shirt und Jackett sieht er eher nach Architekturstudent als nach Pastor aus. Seine Botschaft, die er locker und mit Witzchen gespickt verkündet, könnte man so zusammenfassen: Auch wenn du denkst, dir geht es ganz gut, geht es dir eigentlich scheiße. Um aus der Scheiße herauszukommen, musst du an Jesus glauben. Auch die „Heilsbotschaft“ der Katholiken und der Protestanten hat immer etwas Morbides an sich, aber das Beschwören von Tod, Leid und Qual, die nicht selbst überwunden werden können, ist bei der „Christus-Gemeinde“ doch unübersehbar. Es mag an meiner langen Abstinenz vom Göttlichen liegen, dass mir das ständige Indoktrinieren, man sei selber völlig hilflos, so auf den Magen drückt.
Nachdem der Pastor seinen Monolog beendet hatte, konnte man sich melden, wenn man zum ersten Mal da wäre. Man bekomme ein Goodie-Bag. Ich meldete mich. In einer Papiertüte finde ich eine CD mit christlicher Fahrstuhlmusik, einen Getränkegutschein für eine (warme) Limo und verschiedene Kärtchen, um weiter in Kontakt zu bleiben. Danach singt man zusammen und eine Frau mit der perfekten Kundencenter-Stimme sagt, wer Jesus in sich spüre, solle den Arm heben. Es mag eine linke Neurose sein, aber man fühlt sich nicht besonders wohl, wenn rings um einen Menschen den Arm mit gestreckter Hand nach oben halten. Nach gut einer Stunde ist der Spuk vorbei und zumindest mir reicht das auch für die nächsten 25 Jahre.