Vom „Haus Europa“ zum Krieg gegen Russland

Fehleinschätzungen und Ernüchterung

Nach der Niederlage des Roten Oktober im Dezember 1991 war bei vielen Menschen, vermutlich auch bei der jetzigen Führung in Moskau, der Glaube an eine Friedensdividende lebhaft vorhanden. Michail Gorbatschow und Helmut Kohl hatten von einem „gemeinsamen Haus Europa“ gesprochen, Wladimir Putin hatte noch 2010 eine Freihandelszone „von Lissabon bis Wladiwostok“ vorgeschlagen, viele Linke glaubten an Abrüstung, soziale Verbesserungen, an das „globale Weltdorf“. Dem allem lag die Fehleinschätzung zugrunde, dass der Anfang der 1940er Jahre nur kurzzeitig unterbrochenen Frontstellung des anglo-amerikanisch geführten Westens gegen die Sowjetunion der Antikommunismus zugrunde lag. Selbstredend waren die Führungen in Europa und den USA beinharte Antikommunisten. Aber dieser Antikommunismus hatte vor allem ideologische Funktionen. Er lieferte der US-Führung die ideale Legitimationsgrundlage für ihren endlosen Krieg, für die 64 Regime-Change-Operationen allein im Ersten Kalten Krieg, die zum Aufbau des US-Imperiums notwendig waren. Die absurde antikommunistische Hysterie half die astronomischen „Verteidigungs“-Budgets zu begründen, mit denen das Pentagon in aller Welt Krieg führte und rund 1.000 Militärstützpunkte errichtete. Dabei war jedem nüchtern Denkenden klar, dass weder die Sowjetunion noch die Russische Föderation jemals über den Willen noch die Mittel verfügte, eine Invasion des US-Festlandes durchzuführen.

Diese Lektion hat Putin erst mühsam lernen müssen. Der konservative, dem kapitalistischen Westen eher zugeneigte russische Präsident hätte noch 2021, ja selbst noch im Frühjahr 2022 lieber einen Deal mit dem wortbrüchigen Westen versucht, als tatsächlich diesen Konflikt zu wagen. Erst der konsequente Kriegskurs Washingtons, längst in den strategischen Dokumenten führender US-Thinktanks publiziert, machte dem Kreml klar, dass ihm keine Wahl blieb. Die von den US-Neocons beherrschte US-Führung glaubt fest an die Möglichkeit, ein weiteres „Amerikanisches Jahrhundert“ herbeibomben zu können. Zu diesem Zweck müssen vor allem Russland und China strategisch geschwächt werden.

Das Muster, das, vom Zerfall der Sowjetunion völlig unberührt, seine Wirkung entfaltet, lautet: Russland, „Putin“, der neue Stalin, ist das Ur-Übel schlechthin und buchstäblich für alle Missstände dieser Welt verantwortlich. „Putin“ ist auf erstaunliche Weise gleichzeitig schwach und unfähig, andererseits omnipotent und übermächtig. Mit dem trivialen Propagandamuster der „Roten Flut“ führte die US-Kriegsmaschine seit Korea 1950 einen Krieg nach dem anderen. Der Austausch von Stalin gegen „Putin“ ist eher eine Petitesse. Das erklärte Ziel lautet: Überdehnung und Zerfall Russlands entlang seiner ethnischen und religiösen Gruppierungen.

Dass das Pentagon und seine ukrainischen Hilfstruppen bei diesem Unternehmen nicht gerade erfolgreich sind, stört die neokonservativen Hardliner erkennbar wenig. Der militärisch-industrielle Komplex mit seinen ausgedehnten Wucherungen verdient prächtig. Hier werden die Hunderte Milliarden recycelt, welche die westlichen Händler des Todes großzügig der Ukraine „spenden“. Der eigentliche Gegner heißt ohnehin China. So dient dieser Konflikt in den Augen vieler China-Falken nur als Vorspiel zum eigentlichen Endkampf vor Chinas Küste. Der Führer der US-Konservativen, Mitch McConnell, äußerte gegenüber Wladimir Selenski in der letzten Woche: „Sie kämpfen einen guten Kampf. Dies ist Amerikas Kampf. Es zeigt China: Wir bleiben stark.“ Eine halbe Million tote Ukrainer, ein zerstörtes Land für eine leere Supermann-Pose gegen China.

In der Ukraine können Waffen, vor allem Raketen und Drohnen und gegnerische Luftabwehrmittel, getestet werden. Logistik, neue Produktionskapazitäten können auf- und ausgebaut, neue Stützpunkte vor Russlands Haustür errichtet werden. Dennoch markiert der desaströse Ausgang des mit allen Mitteln geführten hybriden Krieges eine historische Wende. Die Phase der angloamerikanischen Dominanz geht, für alle sichtbar, unaufhaltsam ihrem Ende entgegen. Deren Basis wurde im ersten globalen Konflikt, dem Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763, gelegt. Mit dem Sieg über die französisch-spanische Flotte bei Trafalgar 1805 wurde sie definitiv festgeschrieben. Eine andere Welt wird nun auch machtpolitisch möglich. Im Globalen Süden herrscht Aufbruchstimmung.

Weitere Infos unter: unsere-zeit.de

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Fehleinschätzungen und Ernüchterung", UZ vom 29. September 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit