Das war also eine „Fehleinschätzung“, wie der sonst so smarte Außenminister Heiko Maas und dann der Rest der Regierung einräumten. Sie konnten ja alle nicht wissen, ja, nicht mal ahnen, dass der afghanische Gegner, die Taliban, so schnell und reibungslos die Macht übernehmen würden. Entsetzen allerorten. Noch eine Woche bevor der alte Präsident Aschraf Ghani ins Exil ging und Männer mit Bart und Turban in den Präsidentenpalast einzogen, war der deutsche Innenminister Horst Seehofer darauf bedacht, Flüchtlinge nicht aus Afghanistan herauszuholen, sondern nach Afghanistan zu schicken. Er konnte sich dabei auf die Einschätzung des Auswärtigen Amtes über die Gefahrenlage im Land stützen. Sie bestand darin zu glauben, die Taliban würden nach Abzug der NATO-Truppen noch neun Monate brauchen, bis sie in Afghanistan die Kontrolle übernehmen würden. Der Rückzug der Truppen samt Gefolge könne also in aller Ruhe abgewickelt werden.
Das ist missglückt. Das Chaos dabei und die Tatsache, dass man auf das Entgegenkommen der zwanzig Jahre lang bekämpften Gegner angewiesen ist, um Flugzeuge in Kabul landen und starten zu lassen, rückt ins grelle Licht der Öffentlichkeit, dass der Feldzug nach Afghanistan mit einer glatten Niederlage zu Ende geht. Hinter der Fehleinschätzung beim Abzug steht in viel größeren Buchstaben die Fehleinschätzung, diesen Krieg überhaupt begonnen und zwanzig Jahre lang betrieben zu haben. „War das Ganze umsonst?“, fragen bang die Kommentatoren.
Sie haben diese Fragen schon lange gestellt und wunderten sich, wie schnell 2001 der damalige US-Präsident noch am Abend des 11. September den „War on Terror“ ausrief, und wunderten sich, dass dieser Krieg dann gegen Afghanistan geführt wurde, wunderten sich wieder, als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA ausrief. Als Kriegsminister Struck dann die absurdeste Erklärung mit der Bemerkung präsentierte, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, war das schon die Geburt einer neuen Verteidigungsdoktrin. Außerdem kann man natürlich auch, wenn man schon einmal machtvoll da ist, nebenbei Brunnen bohren, die Frauen von der Burka befreien oder auch gleich – eine Etage höher als die Amis – „Nation Building“ betreiben. Dass der Krieg nicht begründet war, räumten selbst seine Befürworter oft ein. Aber im Bundestag stimmte nur „Die Linke“ geschlossen dagegen.
Dass der Krieg nun zu Ende ist und zwar mit einer eindeutigen Niederlage der imperialen Hauptmacht, die ihn angezettelt hat, und der Niederlage des größten Kriegsbündnisses auf dem Globus, ist fast uneingeschränkt Grund zur Freude. Anders als 1975, als die USA und ihre Verbündeten die bisher größte Niederlage in Vietnam erlitten, fehlt allerdings das Vertrauen in die Sieger dieses Krieges.
Große Anerkennung aber gilt den Afghanen. Besonders jenen, die von den westlichen Invasoren ausersehen waren, zuweilen sogar dafür bezahlt wurden, um gegen die Taliban zu kämpfen. Sie haben erstens erkannt, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan der Kampf aussichtslos wurde. Sie haben zweitens die Tugend der Fahnenflucht begangen und drittens vor allem dadurch ein Massaker in der Endphase dieses Krieges verhindert. Dieses kluge Verhalten zeigten, nach allem was man hören kann, einfache Soldaten und Offiziere, einfache Bauern und Bürger, Stammesführer und Provinzfürsten bis zum Präsidenten, der sich ins Ausland absetzte. So wurde im Juli und August eine Provinz nach der anderen den Taliban kampflos übergeben. Diese wiederum waren klug genug, nicht nur mit der US-Regierung in Doha zu verhandeln, sondern überall im Land die Kapitulation ihrer Gegner entgegenzunehmen. Mit der Weisheit des afghanischen Volkes haben die westlichen Regierungen nicht gerechnet. Sie hat dem in jeder Beziehung wahnsinnigen Krieg ein schnelles und fast positives Ende gesetzt.