Winter 1916/17. Selbst die heutigen Groß- und Urgroßeltern wissen nichts mehr aus eigenem Erleben davon. Vielleicht ist ihnen durch Erzählungen ihrer eigenen Eltern bzw. Großeltern der Begriff „Hungerwinter“ bzw. „Steckrübenwinter“ noch geläufig. Angesichts der gerade in München tagenden, mit den hochkarätigen Diplomaten, Politikern und Militärs beschickten „Sicherheitskonferenz“- und angesichts der in diesen Tagen erneut an der russischen Westgrenze aufmarschierenden NATO-Truppen unter Führung deutscher Stabsoffiziere, sind diese verblassten Erinnerungen es wert, wieder ins Bewusstsein gerückt zu werden.
Es war eine Periode von Not, Verfolgung und zugleich politisch ungewöhnlicher revolutionärer Dynamik.
Zitat Wikipedia: „Die Proteststimmung verschärfte sich zu Beginn des Jahres 1917 spürbar, als Preissteigerungen und eine weitere Verschlechterung der Lebensmittelversorgung die Bevölkerung in Petrograd zu Streiks und Demonstrationen trieben. In der Februarrevolution von 1917 beendeten Arbeiteraufstände die russische Zarenherrschaft. Die vom Zar mit der Unterdrückung der Aufstände betrauten russischen Soldaten weigerten sich nicht nur – anders als 1905 – auf die Demonstrierenden zu schießen, sondern liefen teilweise zu ihnen über. Der Zar musste am 2. März (alter Kalender)/15. März 1917 (neuer Kalender) abdanken.“
Tatsächlich waren es jedoch nicht der Krieg schlechthin und auch nicht die zaristische Misswirtschaft, sondern die bereits 1905 sich zuspitzenden Klassengegensätze, die die Geduld und die sprichwörtliche Leidensfähigkeit des russischen Volkes seit langem erschöpft hatten. In der bürgerlichen Geschichtsschreibung dagegen dominiert generell die Sichtweise, dass es sich um einen parlamentarischen Kompromiss der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Duma-Fraktionen, dem „Progressiven Block“, mit aufgeklärten Monarchisten gegen den „schwächlichen“ Zaren gehandelt habe.
Das Resultat dieses „Kompromisses“, war zunächst eine feudal-bürgerliche Regierungskoalition unter dem Monarchisten und Zaren-Anhänger Fürst G. Lwow; dem Führer der bürgerlich-liberalen Konstitutionell-Demokratischen Partei („Kadetten“) P. N. Miljulkow als Außenminister und dem Führer der zu „Vaterlandsverteidigern“ mutierten anarchistisch-agrarsozialistischen Partei, der Partei der Sozialrevolutionäre („Trudowiki“), A. Kerenski. Er wurde zunächst Kriegsminister und nach einer Regierungsumbildung im Juli Vorsitzender der Provisorischen Regierung.“
Diese neue Koalitionsregierung war gewillt, den seinem Wesen nach imperialistischen 1. Weltkrieg, bei dem es den kriegsführenden Mächten um die Vorherrschaft in Europa ging, zur Verteidigung des „Vaterlandes“ auch auf Kosten weiterer hundertausender Toter und Verkrüppelter fortzusetzen. Es bekümmerte sie nicht, dass bis Ende 1916 bereits mehr als 1,5 Millionen Soldaten von der Front desertiert waren. Lenin schrieb zur Charakterisierung des Klassencharakters des neuen Machtsystems:
„Diese Regierung stellt kein zufälliges Häuflein von Menschen dar. Es sind die Vertreter einer neuen Klasse, die in Russland zur politischen Macht aufgestiegen ist, der Klasse der kapitalistischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die unser Land seit langem lenkt und die sich sowohl in den Jahren der Revolution von 1905–1907 als auch in den Jahren der Konterrevolution von 1907–1914 und schließlich – und zwar mit besonderer Schnelligkeit – während der Kriegsjahre 1914–1917 außerordentlich rasch organisierte, indem sie sie örtliche Selbstverwaltung und die Volksbildung, die Kongresse verschiedenster Art, die Reichsduma, die Kriegsindustrie-Komitees usw. in ihre Hände nahm. Diese Klasse war gegen 1917 schon ‚beinahe ganz‘ an der Macht; deshalb bedurfte es nur der ersten Schläge gegen den Zarismus, damit er zusammenstürzte und der Bourgeoisie Platz machte.“ Die neue Regierung sei lediglich der „bloße Sachwalter der Milliarden-‚Firmen‘: ‚England und Frankreich‘.“ (W. I. Lenin: Briefe aus der Ferne. In Lenin. Stalin. Das Jahr 1917. Ausgewählte Werke. Berlin 1949, S. 13)
Das Ergebnis der Revolution war also zunächst eine noch unentschiedene Konstellation der Klassenkräfte, in der es neben der formalen „Hauptregierung“ unter dem Fürsten Lwow und Co. eine „Nebenregierung“ in Gestalt des Petrograder Sowjets gab, die zwar über keine Organe der Staatsmacht verfügte, die sich aber auf die Mehrheit des Volkes und auf die bewaffneten Arbeiter und Bauern stützte. Diese spezifische Mächte- und Klassenkonstellation nannten die Bolschewiki die „Doppelherrschaft“. Der Verlauf der folgenden Monate bis zur siegreichen nächsten Etappe, deren Höhepunkt die Oktoberrevolution werden sollte, wurde durch den Kampf zwischen diesen beiden Machtzentren geprägt.