Unbestritten, TTIP ist ein Investitionsschutzabkommen. Genauer gesagt, ein Profit-Garantieabkommen. Die Firma Vattenfall klagt bekanntlich auf Schadenersatz, weil sie die Menschen in der Bundesrepublik nicht weiter mit ihren Atomkraftwerken gefährden darf. Mit TTIP dürften Vattenfalls Chancen steigen. TTIP erinnert der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Stiglitz an Asbest. Asbest ist hochgradig karzinogen und verantwortlich für zahlreiche Tote. Mit TTIP stünden die Chancen der Asbestfirmen nicht schlecht, eine Entschädigung dafür zu verlangen, dass sie nicht weiter Menschen umbringen dürfen. Profitsicherheit dürfte einer, der wichtigsten Gründe für TTIP zu sein. Soweit, so schlecht.
TTIP segelt aber vor allem unter der Flagge des „Freihandels“. „Freihandel nutzt allen“, heißt die wenig widersprochene Parole der Marktradikalen. Adam Smith habe das schon gewusst. Nun gibt es im Raum des TTIP-Abkommens kaum Handels- und Kapitalverkehrshindernisse abzubauen. Die Propaganda ist hier ebenso irreal wie der davon versprochene Wirtschaftsaufschwung. Ist „Freihandel“ deshalb unter dem Wahrnehmungsradar?
Adam Smith, der „zusammenfassende politische Ökonom der Manufakturperiode“ (Marx) schrieb gegen den Merkantilismus des feudalen Absolutismus an, der die aufkommende Industrie zu gängeln und auszubeuten trachtete. Seine Forderung nach „Freihandel“ hat hier ihren Platz. Der heutige Welthandel wird von riesigen, international investierenden Konzernen dominiert. Die Forderung nach Freihandel hat hier eine entwaffnende Funktion. Spätestens seit der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium trat, bedeutet zwischenstaatlicher Freihandel die Durchsetzung des ökonomischen Faustrechts des Stärkeren. „Ein Kapitalist schlägt viele tot“ (Marx). National wie international.
Selbstredend ist das auch den großen „Freihandels“-Propheten bewusst. Auch England und die USA waren streng protektionistisch, bis ihnen die industrielle Revolution, ab Mitte des 19. Jahrhundert, den nötigen Konkurrenzvorteil verschaffte. Auch heute sind die USA und die EU ganz selbstverständlich protektionistisch, wenn sie es für opportun halten. Beispielsweise auf dem Solarmarkt. Im Mai 2012 führten die USA Strafzölle von 31 Prozent bis 250 Prozent auf chinesische Solarpaneelen ein. Die EU zog nach. Beide imperialen Großräume subventionieren massiv ihre Landwirtschaft. „Freihandel“ ist eine neoliberale Propagandablase. Handelskonditionen sind konkurrenzentscheidend. Sie werden auf dem Wege der Durchsetzung von Macht entschieden.
Das noble England erzwang sich seinen Zugang zum chinesischen Markt in zwei Opiumkriegen (1839-42 und 1858-60), um als Top-Großdea-ler mit Millionen Drogenopfern Geschichte zu machen. Chinas Handelsüberschuss verwandelte sich durch die erzwungenen ungleichen Verträge in ein Defizit. Der englische Silberabfluss ins Reich der Mitte wurde durch Krieg gestoppt. Die USA zwangen 1853 das isolationistische Japan zur „Marktöffnung“. Der Vertrag von 1858 räumte den USA einseitige Handelskonzessionen, die „Exterritorialität“ der US-Bürger, sowie minimale Importzölle ein. Nichtimperiale Länder können „Freihandel“ nur bei vorgehaltener Waffe akzeptieren.
Nach dem die ehemaligen Kolonien sich unter großen Opfern endlich freigekämpft hatten, hofften die Kämpfer ihre Wirtschaft neu aufbauen zu können. Dazu brauchten sie Kredite und Absatzmärkte. Der „Volcker-Shock“, eine massive Heraufsetzung der Leitzinsen in den USA 1981, machte die Kredite für die „Dritte Welt“ astronomisch teuer und gleichzeitig verfielen die Handelsraten (Terms of Trade). Fast alle „Entwicklungsländer“ fanden sich in der Schuldenfalle wieder.
Die Schulden waren die Kriegsschiffe des 20. Jahrhunderts. Wer nicht mehr zahlen konnte, wurde unter das Joch des „Washingtoner Consensus“ gezwungen, jenes Bündel von Liberalisierungs-, Deregulierungs- Kürzungs- und Privatisierungsmaßnahmen mit dem IWF und Weltbank ganze Weltregionen ins Elend des „freien Handels“ stürzten.
Wer noch der empirischen Belege zu den Wirkungen von „Freihandelszonen“ im wieder weltweit entgrenzten Kapitalismus bedarf, findet sie in der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA. Mexiko ist heute, nach 20 Jahren NAFTA ein zerstörtes Land, in dem die Mafia regiert. Millionen Kleinbauern verloren ihre Existenz, weil sie mit den Preisen (20 Prozent unter den Produktionskosten) der hochsubventionierten Agro-Indus-trie der USA nicht standhalten konnten. Der ehemalige Selbstversorger Mexiko muss heute 60 Prozent seines Weizens und 70 Prozent seines Reis importieren. NAFTA ist wie TTIP ein Verelendungsabkommen.
Sicher, es gibt Ausnahmen, wie beispielsweise China oder Südkorea. Einige Staaten haben einen beachtlichen Aufschwung, eine nachholende Industrialisierung geschafft. Oft unter ähnlich grausamen Bedingungen wie vor 200 Jahren. Aber nur, weil sie aufgrund ihrer Größe oder geostrategischen Position in der Lage waren sich den Zwängen des Washingtoner Übereinkommens (Washington Concensus) eben nicht unterwerfen zu müssen. Entwicklung braucht staatlichen Schutz und Investitionen. Damit ist natürlich die kapitalistische Krise nicht ausgehebelt – aber das ist eine andere Sache.