Ein Ort, den es gleich mehrfach gibt in Brandenburg und sogar darüber hinaus – allein Wikipedia kennt ihn dreimal – und doch ist nur der mit der Postleitzahl 15328 das „richtige“ Golzow, dasjenige, das durch eine Filmreihe weltweit bekannt wurde. Denn in diesem Dorf im Oderbruch, direkt an der polnischen Grenze beobachtete ein Kamerateam der DEFA 1961 jene gut zwei Dutzend Golzower Jungen und Mädchen, die gerade als Erstklässler eingeschult wurden und es – 19 Filme und vier Jahrzehnte später – sogar amtlich in den Ortsnamen als „Ort der ‚Kinder von Golzow‘ geschafft haben. Die Golzow-Filme von Winfried und Barbara Junge, die eine Gesamtlaufzeit von 45 Stunden (!) haben und als die „längste Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte“ zeitweise auch im Guinness-Buch erwähnt wurden, umspannen fast fünf Jahrzehnte privater und deutscher Geschichte. Sie sind nun bei Absolut Medien in einer neuen Edition auf 18 DVDs mit viel Bonusmaterial erhältlich – ein guter Anlass, dieses Monument der Filmgeschichte neu oder wieder zu entdecken.
Wer wie ich viele Jahre im November das Leipziger Dokumentarfilmfestival besuchte, kam zunächst in kleineren Häppchen mit den frühen, kurzen Filmen der Reihe in Berührung, bis dann 1981 ein wahrer Donnerschlag die „Dokwoche“ erschütterte und die Golzower ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte: „Lebensläufe“, 257 Minuten lang, wollte, so der Untertitel, „die Geschichte der Kinder von Golzow in einzelnen Porträts“ erzählen – und erhielt außer der „Goldenen Taube ehrenhalber“ überschwengliches Lob auch in der bundesdeutschen Presse. „Viereinviertel Sternstunden“ lautete der Titel meiner eigenen Kurzrezension, denn „Lebensläufe“ hatte mich gelehrt, wie kurzweilig „überlange“ Filme sein können. Noch länger wurde „Drehbuch: Die Zeiten“ (284 Minuten), uraufgeführt nun nicht mehr in Leipzig, sondern auf der Berlinale 1993. Aber der konnte schon aufgrund seiner Entstehungsgeschichte erhöhten Interesses sicher sein: Mauerfall und das Ende der DDR hatten inzwischen aus den Golzower DDR-Bürgern Bundesbürger gemacht – und aus den Junges zwei Dokumentarfilmer, die ihre Projekte nun gegen Einwände und Widerstände ganz anderer Art durchsetzen mussten, was sie – wie zuvor auch – wieder im Film selbst ansprachen. Es folgten acht ausführliche Einzelporträts der inzwischen selbst Eltern gewordenen Golzower, die nochmal das ganze Potential des gedrehten, aber nicht verwendeten Materials ausschöpften und nachhaltig die über die Jahrzehnte gewachsene Nähe zwischen Filmern und Gefilmten bewiesen. 2006/2007 beendeten die Junges ihr Mammutwerk mit zwei großen Vierstündern, deren märchenartige Titel für einen Dokumentarfilm fast bitter klingen: „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ und „… dann leben sie noch weiter“.
Nun, da man sich auf den 18 DVDs den kompletten Golzow-Zyklus sozusagen „am Stück“ anschauen kann – Vorsicht! Es besteht Suchtgefahr! – tritt die Einmaligkeit dieses filmhistorischen Ereignisses noch stärker zutage. Die politische Zäsur des Jahres 1989, die man seinerzeit unmittelbar in den Golzow-Filmen „vorher“ und „nachher“ zu spüren meinte, verblasst vor dem Eindruck einer erstaunlichen Kontinuität, die aus der Kontinuität der Protagonisten und der ihnen begegnenden Politik nur unzulänglich zu erklären ist. Sie scheint vielmehr in Konzept und Methodik der Filmemacher von Anfang an zu liegen. Die Idee zum Projekt stammte von Junges Mentor, dem renommierten DEFA-Dokumentaristen Karl Gass: den Neubeginn beim Aufbau des DDR-Sozialismus, den die Sicherung der Westgrenze 1961 ermöglicht hatte, im Leben junger DDR-Bürger zu spiegeln, die im ländlichen Raum an der Friedensgrenze im Osten aufwuchsen. Gass dazu später in einem Interview: „Wir gingen bewusst ins Oderbruch, die rückständigste Gegend der DDR, um zu zeigen, wie aus dieser Gegend intelligente junge Leute herauskommen. Welchen Umfang dieses Projekt haben würde, dem in 46 Jahren mehrfach das Ende drohte, ahnten Junges damals sicher nicht. Klaus Schmutzer, Produzent der Golzow-Filme seit 1997, sagt über ihn: „Golzow ist sein Leben, und wer mit den Junges durch Golzow geht, spürt das noch heute.