Droht ein neuerlicher Faschismus? Sind wir schon mittendrin? Diesen Fragen begegnen wir immer öfter in der Debatte unter Linken, überhaupt unter Antifaschisten. In einer Zeit, die als Umbruchszeit bezeichnet werden kann und die von aggressiver Kriegspolitik und reaktionär-militaristischem Staatsumbau in der BRD gekennzeichnet ist, beobachten wir einen geradezu inflationären Gebrauch des Faschismusbegriffs. Damit im Zusammenhang steht die Umdeutung des Begriffs Antifaschismus, der so weit ausgehöhlt wurde, dass ihn sogar die imperialistische Regierung für sich in Anspruch nehmen kann, deren Oberhaupt keine Hemmungen hat, „Slawa Ukraini“ auszurufen, Anfang der 1940er-Jahre unter Stepan Bandera das ukrainische Gegenstück zum Nazigruß „Sieg Heil“. Der Faschismus selbst hat sich ein antifaschistisches Outfit zulegen können. Nicht zufällig ergreifen deshalb marxistische Autoren vermehrt das Wort, um sich mit der Faschismusproblematik auseinanderzusetzen. Sie tragen eine große Verantwortung, denn die Antwort auf die damit aufgeworfenen Fragen muss wohlbedacht sein, hängt von ihr doch die richtige Strategie und Taktik des Kampfes gegen den Faschismus ab. Zu diesen Autoren gehört Ekkehard Lieberam, der einen im Rahmen eines politischen Bildungsabends gehaltenen Vortrag zum Thema „100 Jahre Faschismusdebatte“ – erweitert um die repräsentative Textsammlung „Faschismus und Faschismusdebatten“ – im pad-Verlag veröffentlicht hat.
Kompliziert und widersprüchlich verlief die Analyse der neuen Erscheinung „Faschismus“, wie Lieberam aufzeigt. Seine antikapitalistische Pose und seine Massenbasis versperrten nicht wenigen linken Faschismustheoretikern die Sicht auf seinen Klassencharakter. Dabei war der Zusammenhang zwischen Faschismus und Krieg unübersehbar: „Wer Hitler wählt, wählt Krieg!“ 1933 kam es zu einem „Schreckensregiment gegen die Massen selbst, mit Hilfe der Massen errichtet“, wie Hans Günther schrieb. Der Faschismus war eine Sache des Monopolkapitals beziehungsweise von Fraktionen des Monopolkapitals. Seine Massenbasis hatte er im Kleinbürgertum sowie in Teilen der Arbeiterklasse mit geringer politischer Klassenbildung. Politische Konflikte, die sich aus dem Widerspruch zwischen Klassencharakter und Massenbasis ergaben, wurden – so Lieberam – von der Führung der Nazipartei 1930 noch mühelos gelöst. Die faschistische Bewegung als eine besondere Form der Organisierung der Massen im Sinne des Kapitalismus war die massenpolitische Grundlage für die Übertragung der Staatsmacht durch das Monopolkapital an die Naziclique, somit eine Voraussetzung für einen besonders schnellen Weg zum imperialistischen Krieg, zur Weltkriegsallianz des Faschismus. Das erleichterte auch die Pauschalisierung des Faschismusbegriffs zu einem Kampfbegriff, der es scheinbar ermöglichte, jede reaktionäre Handlung als faschistisch zu schimpfen.
Die Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit des Faschismus, die hierfür ausschlaggebend ist, nimmt die bürgerliche Ideologie sehr oft zum Anlass, dessen konstante Merkmale zu verneinen – um so wichtiger ist es, sich dieser zu vergewissern. Sie wurden auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 herausgearbeitet, nach 12 Jahren zähen Ringens um die Erkenntnis der Wurzeln des Faschismus. Lieberam arbeitet fünf Merkmale heraus, auf die der VII. Weltkongress besonders einging. Zentral ist die Enthüllung des Klassencharakters des Faschismus, die Erhellung wesentlicher Zusammenhänge zwischen Faschismus und Kapitalismus – sowohl als Bewegung als auch als Faschismus an der Macht. Ebenso wichtig ist, dass der Faschismus einen Wechsel der Staatsform und keinen bloßen Regierungswechsel bedeutet. Vor allem gilt: Die faschistische Diktatur wurde installiert, um einen imperialistischen Raubkrieg – den Überfall auf die Sowjetunion – vorzubereiten und letztlich eine Revolution zu verhindern. Faschismus ist Kriegspolitik und eng mit der Vorbereitung eines imperialistischen Raubkriegs verbunden, betont der Autor. Kritisch vermerkt er, dass man die faschistische Diktatur nicht schlechthin als „die“ terroristische Diktatur bezeichnen könne – eine Militärdiktatur ohne Massenbasis sei auch terroristisch.
Der „historische Faschismus“ wurde 1945 besiegt, aber die Wurzeln des Faschismus existieren weiter. Für die BRD schätzt Lieberam die Lage differenziert ein. Wer heute von einer drohenden Abschaffung „der Demokratie“ spreche, verkenne die Lage und übersehe die vorhandene Unfähigkeit vieler Linker, die bestehende Demokratie als vom Monopolkapital derzeit bejahte Form der Kapitalherrschaft zu erkennen und den in ihrem Rahmen stattfindenden Demokratieabbau zu kritisieren. Die AfD charakterisiert der Autor als eine „rechtskonservative Partei mit neonazistischen Einsprengseln“. Eine faschistische Partei sei sie nicht, nicht wenige ihrer Politiker und Anhänger können jedoch dem hierzulande bestehenden neofaschistischen Netzwerk zugeordnet werden. Unser politischer Hauptgegner seien die in der BRD Regierenden einschließlich der CDU/CSU als Hauptpartei des Monopolkapitals. „Die AfD ist nicht nur ein politischer Konkurrent, sondern auch ein potentieller Partner der CDU/CSU.“ Sie wird den Parlamentarismus nicht beseitigen, jedoch deutlich weiter nach rechts ausrichten. Die Neonaziszene insgesamt in der BRD sei bedrohlich.
Von besonderer Wichtigkeit erscheinen dem Rezensenten die Darlegungen Lieberams zur Demokratie als „konservative Lebensform“ (Karl Marx) der Kapitalherrschaft. Für ihn ist klar, dass man heute nicht über Faschismus sprechen kann, ohne auch über den Zustand der parlamentarischen – sprich bürgerlichen – Demokratie als aktuelle Staatsform der Kapitalherrschaft nachzudenken und zu reden. Das Monopolkapital wolle die bürgerliche Demokratie als Herrschaftsform funktionstüchtig halten, auch durch den Einbau diktatorischer Elemente. Eingeräumt wird aber, dass dies durchaus wieder anders werden könne. Eine faschistische Massenpartei, die die bürgerliche Demokratie beseitigen will und kann, ist indes für Lieberam in der heutigen BRD ebenso wenig in Sicht wie ein Monopolkapital, das auf eine terroristische Diktatur nach dem Vorbild des Nazifaschismus hinarbeitet. Einschränkend ergänzt der Autor, dass der Übergang zur terroristischen Diktatur auf Zeit allerdings für den Fall einer ernsten politischen Krise vorgesehen sei, wie das die Notstandgesetze bewiesen. Dabei ist zu bedenken, dass der imperialistische Krieg vom Monopolkapital auf – wie es gegenwärtig geschieht – parlamentarischem Weg wie auch vom Faschismus an der Macht vorbereitet werden kann. Hierzu wären angesichts der aktuellen Situation weitere Ausführungen Lieberams wünschenswert gewesen. Zur Ukraine schätzt er ein, dass es sich dort um eine Herrschaftsform handle, die sowohl Merkmale des Faschismus als auch solche der bürgerlichen Demokratie aufweise – eine Mischform also.
Lieberam hat seinem Vortrag eine Textsammlung beigefügt, die zeigen soll, wie Marxisten und Linke darum gerungen haben, Klarheit über den historischen Platz des Faschismus, seine Merkmale und sein Wesen zu gewinnen. Das sei die Voraussetzung dafür, dass antifaschistischer Kampf wirklichkeitsnah und erfolgreich sein kann. Dabei dürfe nicht übersehen werden, dass die Errichtung der faschistischen Diktatur ein Weg zur Rettung des Kapitalismus sein soll. Die Textsammlung ist eine echte Bereicherung für die Debatte.
Die Broschüre des pad-Verlags, die auf Verständlichkeit großen Wert legt und für Studienzwecke besonders geeignet ist, wird hiermit als Lektüre für den antifaschistischen Kampf wärmstens empfohlen.
Ekkehard Lieberam
100 Jahre Faschismusdebatte
Schriftenreihe des Forums
Gesellschaft und Politik e. V.
pad-Verlag Bergkamen 2023, 97 Seiten, 6,00 Euro
Erhältlich im UZ-Shop